No Sex, No Drugs, just Rock’N’Roll

Angekommen in Nanjing, der südlichen Hauptstadt Chinas.

Bis zur Gründung der Volksrepublik durch die Kommunisten im Jahr 1949 war Nanjing immer wieder alleinige Hauptstadt. Seitdem aber, hat die nördliche Hauptstadt Beijing (Peking) das Rennen für sich entschieden und Nanjing zur Provinzhauptstadt von Jiangsu degradiert.

Doch für die Band bietet Nanjing immer noch einen Empfang, der einer Hauptstadt würdig ist. Am Bahnhof erwartet uns Ting, eine wuselige 22-jährige, die sich um die deutschen Hardrocker kümmern soll. Draußen warten zwei große SUV’s mit getönten Scheiben, die die Band zum Hotel bringen sollen. Im Stadtverkehr merken wir sofort dass hier ein anderer Wind weht, als noch in Xinxiang, Zhengzhou oder Wuhan. Die Straßen sind breit und sauber, alles wirkt moderner und – außer Assistentin Ting – nicht mehr ganz so wuselig.

Die Band ist sichtlich zufrieden mit der Organisation in Nanjing und als wir uns dem Hotel nähern, müssen sie aufpassen nicht gänzlich in Schockstarre zu verfallen. Echten Rock-Superstars würdig, halten die dunklen SUV’s vor einem riesigen Wolkenkratzer, der so aussieht, als wäre er gestern fertiggestellt worden. Tim, Nobby, Pidde, Michi und Mücke nicken grinsend mit den Köpfen – alles standesgemäß.

Nachdem wir die Zimmer bezogen haben – hoch über Nanjing, mit Badewanne am Panoramafenster – treffen wir uns unten in der Lobby. Überrascht schaue ich in lange Gesichter. Die Euphorie der Band über die kaiserliche Unterbringung scheint verflogen.

„Was ist los?“ frage ich Pidde, den Schlagzeuger: „Es gibt kein Bier“ lautet die knappe Antwort. Ting, das wuselige Helferlein, hat den Jungs eine Liste für ihre Backstage-Verpflegung vorgelegt und ist jetzt in Erklärungsnot. Zur Auswahl stehen dort Wasser, 7 Up, Instant-Coffee und Kokosmilch. Für den kleinen Hunger noch Schokoriegel und Erdnüsse. Rock’N’Roll ohne Drugs, das kommt nicht gut an bei den Deutschen.

Wir steigen wieder in die dunklen SUV’s, die uns zum „Forrest Festival“-Gelände bringen sollen. Auf dem Weg sehen wir riesige Gebäude links und rechts, nagelneue Highways, aber keinen einzigen Laden, um die Biervorräte aufzustocken. Dafür halten wir irgendwann an zwei riesigen Bühnen mit Live-Bildschirmen und gigantischer Lichtshow. Davor kreischen tausende Chinesen in Regencapes, denn es saut seit Stunden vom Himmel.

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Jetzt wird’s richtig wuselig: Kaum aus den Autos ausgestiegen, schwärmen aus allen Richtungen Volontäre auf uns zu, die Bandequipment tragen und Schirme halten. Vor allem die Schirmhalter nerven schnell, denn sie folgen uns auf Schritt und Tritt. Angekommen im Backstage-Zelt mit Aufschrift THE IGNITION, werden die Nerven nochmal arg auf die Probe gestellt. Ting legt ein Vertragswerk in chinesischen Schriftzeichen vor, mit der Erklärung, dass die Band vor dem Konzert kein Bier trinken darf und nur die sechs Songs vom aktuellen Album erlaubt sind. Außerdem dürfen keine anzüglichen, pornografischen oder politischen Botschaften übers Mikro kundgetan werden. Bandleader Tim fällt ganz tief in seinen Sessel, während draußen auf der Bühne ein Püppchen seichte Schlagerlieder trällert.

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Letztendlich fängt die Band sich wieder, rappelt sich auf, schüttelt die Schirmträger ab und stromert übers Festivalgelände. Und da lichten sich die Mienen schnell wieder, denn dass Rockstar-Feeling ist zurück. Wo sie auch auftauchen wollen die Leute Selfies und Autogramme. Bassist Michi fasst zusammen: „Die kennen uns nicht, wissen aber, dass wir gleich auftreten und sind jetzt schon begeistert von uns – unglaublich!“

Alkohol gibt es auf dem riesigen Gelände nicht, nur Zuckerzeug und Fressbuden.

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Dann ist es soweit: Um 18:30 Uhr, also nach Sonnenuntergang, nimmt THE IGNITION die riesige Bühne in Besitz. Während auf der zweiten Bühne noch ein seichtes Popkonzert läuft, machen die Jungs aus Tönnishäuschen Soundcheck. Abermals frage ich mich: „Wie soll das gehen? Wie soll eine Hardrock-Band dieses Pfadfinderlager in Wallung bringen und die jungen Chinesen von Schlager und Pop auf Hardrock trimmen?“ Langsam wird’s voll vor der Bühne. Wir blicken mittlerweile auf ein Meer aus Regenponchos, Schirmen und bunten Knicklichtern – etwa 15.000 Leute.

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Die ersten Riffs ballern über die vielen Köpfe hinweg und siehe da, Gekreische und Jubelschreie setzen ein. In Sturm und Regen geht das Konzert richtig ab, frieren muss hier sichtlich keiner mehr. Direkt vor der Bühne bildet sich ein riesiger „Moshpit“, den die vielen Polizisten aufmerksam beäugen. Das geschubse und rumgehüpfe können sie, glaube ich, nicht ganz einordnen: „Ist das gefährlich?“, „Wird hier demonstriert?“ oder „Wiegelt die Band die lieben Mädchen und Buben auf?“

Aus den erlaubten sechs Liedern macht THE IGNITION, sehr geschickt, mindestens zehn, indem sie einige Songs so aneinanderreihen, dass sie wie ein Lied klingen. Die Sittenwächter vor der Bühne merken nichts. Nach 45 Minuten ist die Show abgefackelt und die Masse tobt.

Gute Gelegenheit für die stocknüchterne Band sich ihren Rausch im Publikum zu holen. Ein Bad in der Menge, Selfies und Autogramme, können auch so einige Endorphine freisetzen.

Geht doch!