Am Ende

Basierend auf einer wahren Begebenheit.

Knirschenden Schrittes gehe ich die kleine Palmenallee entlang. Rechts und links des geschotterten Pfades reihen sich Stellplätze für Wohnmobile aneinander. Die meisten sind zu dieser Jahreszeit noch unbelegt. Dann plötzlich schrecke ich aus meinen Tagträumen: Eine Gruppe Menschen steht um ein Auto, darin eine Frau, von der ich nur die Hand sehe, die sich krampfhaft an der halb herunter gelassenen Scheibe festhält. Am Boden liegt eine seltsam gewölbte, goldene Wärmedecke, an den Rändern mit Steinen beschwert. Dann plötzlich hebt eine Windböe die glitzernde Folie leicht an. Wie aus dem nichts macht sich ein beklemmendes Gefühl breit – kalte Hände, die sich um den Hals legen. Mein Blick fällt auf eine Strähne – grau-silbriges Haar.

Eben noch schwirrte das ältere Ehepaar euphorisch um den etwas greisen Wohnwagen auf Parzelle 180 ihres Stammcampingplatzes an der Costa Brava. Er senkte die eisernen Stützen ab, natürlich präzise auf zwei extra ausgelegte Platten; sie trug die Teile des verblichenen Vorzelts ins Freie, bereit es gemeinsam aufzurichten. Routinierte Handgriffe, alles so wie sie es schon unzählige Male getan haben. Früher, in den 70er und 80er Jahren, mit ihren Kindern in den großen Ferien, dann allein in den Ferien und mittlerweile, als Rentner, wann immer ihnen danach ist.

Jetzt, nur wenige Minuten nach ihrer Ankunft liegt er tot zwischen Wohnwagen und Anhängerkupplung. Den Stecker für Rückleuchten und Blinker hatte er noch ziehen können, dann war er zur Seite gekippt und auf dem braun-grünen Rasen gelandet.

Das Geschrei seiner Frau riss die Nachbarn auf Stellplatz 181 – ebenfalls ein älteres Ehepaar – aus ihrer Mittagsruhe. Doch als die schnell alarmierte ambulancia eintrifft, liegt bereits eine bleierne Schwere über dem sonnenbeschienenen Campingplatz. Eine Gruppe Urlauber steht um die Frau versammelt, versucht unbeholfen das Unwirkliche begreifbar zu machen. Den Sanitätern bleibt nur eine gold glänzende Wärmedecke über den Toten zu legen.

Dann kommt die Mossos d’esquadra, die katalanische Polizei. Zwei Beamte nehmen ihre Arbeit auf, befragen Zeugen, kritzeln Worte und Zahlen in Formulare. Weil die Wärmedecke vom starken Wind immer wieder weggeweht wird, beschweren sie sie kurzerhand mit Steinen, rund um den leblosen Körper, der vor wenigen Minuten noch so quicklebendig war – voller Vorfreude auf einen Urlaub am Meer.

Drumherum geht das Leben gnadenlos seinen Gang. Menschen gehen Hand in Hand spazieren, sonnen sich vor ihren Wohnmobilen, trinken Kaffee oder spielen Karten.

Für diesen einen Mann endet sein Urlaub, bevor er richtig angefangen hat, zwischen Wohnwagen und Heckklappe, und damit auch sein ganzer Lebensweg. Was mag nun anstehen für seine Frau, die sich eben noch auf sonnige Wochen am Strand freute? Die Kinder anrufen, übernachten in irgendeinem Hotel, die Obduktion abwarten, den Verstorbenen nach Hause bringen, Beerdigung und danach das Leben alleine Meistern…

Auf dem Campingplatz sind die Spuren des tragischen Tages schnell verwischt. Der Wohnwagen steht noch da, das Auto ist weg, der Verstorbene auch. Die Nachbarn sind nicht zu sehen. Sonst sieht alles wieder normal aus. Hinter den Dünen rauscht das Meer.

„Einfach umgekippt“ sagt die Frau von der Rezeption. Ganz normal eingecheckt und fünf Minuten später lag er da. Bestimmt wird die Geschichte am Abend und in den nächsten Tagen noch einige Male erzählt, dann immer weniger und irgendwann läuft sie in der Rubrik, „es war einmal“ (am 19. März 2019 auf Parcela 180).