Eine unsachliche, tendenziöse Schreiberei, voller Vorurteile und subjektiver Einordnungen. Gesponnen von Max Meis.
Lothars erstes Date
Hin und wieder kommt es vor, dass Durchreisende am Bielefelder Hauptbahnhof ausgespuckt werden und dort erstmal verweilen müssen. Sind die ersten Flüche auf die Bahn verhallt, geht der Weg zum Infoschalter, nur um herauszufinden, dass nichts mehr geht und der Aufenthalt wohl ein paar Stunden dauern wird. Der Frust verebbt erst über der Zwiebel-rosigen Oberfläche einer heimischen Metthälfte und einem Becher Altöl-Käffchen.
Lothar ist so ein Bahnopfer – Lothar aus Freiburg. Er hockt in der überfüllten Bielefelder Bahnhofshalle und hat den Kaffee auf. Der Pappbecher fliegt in die Tonne und Lothar tritt hinaus, auf den Bahnhofsvorplatz. Grau in Grau jagen sich Wolkenfetzen am Himmel, die Luft ist frisch und kühl. Leicht aufgeweckt schlendert der Gestrandete los und langsam wächst die Bereitschaft in ihm, Bielefeld eine Chance zu geben.
Er weiß nichts über diesen Ort und den Landstrich, der ihn umgibt. Schon gar nicht über die Menschen hier – er kennt niemanden aus der Region. An einer Steinbank lehnt ein Pappschild, darauf hat jemand eine hutzelige Eule mit riesigen Augen gekritzelt und in großen Lettern geschrieben „OWL heißt dich Willkommen, liebe Bärbel“
Tatsächlich schleichen die Passanten an diesem kühlen Wintertag wie lautlose Eulen um die Häuserblocks. Bloß nicht angesprochen werden. Blick nach unten, Flügel schlagen und wech.
Lothar ist keine 50 Meter gegangen, da warnt ihn ein Mann in der Uniform einer Security-Firma, er solle seinen Jutebeutel lieber nicht so achtlos über die Schulter werfen, hier gäbe es „Ratten“, die es auf seine Habe abgesehen hätten. Der Freiburger schaut sich um und erblickt eine Truppe Trunkenbolde direkt am Eingang zur U-Bahn, die ihn freundlich angrinsen.

Keine Dreisam, keine lieblichen Wasserläufe durch historische Gässchen, keine Romantik. Als Lothar einen Passanten anspricht, ob Bielefeld auch Wasser hätte, zuckt der nur mit den Schultern. „Geht so, ne. Aber is nich schlimm, kannste wenigstens nich besoffen reinfallen.“ Augenzwinker. Lothars Geduld für „Liebefeld“ und OWL ist am Ende. Er wendet sich wieder dem Bahnhof zu, will lieber dort warten, als hier weiter auf Granit zu beißen.

Wieder einmal hat die Stadt am Teutoburger Wald ein erstes Date verspielt. Sie ist eben eine von jenen verschüchterten, aber liebenswerten Damen, die erst beim zweiten oder dritten Treffen ihre Sprache finden – das Mauerblümchen unter den deutschen Großstädten.
Warum sage ich das?
Nun, ich selbst komme mittlerweile hier „wech“. Geboren wurde ich in der verbotenen Stadt oder „Telgte-West“, wie man hier in Bielefeld zu sagen pflegt. Grund für die Ablehnung der, nur rund 60 km Luftlinie entfernten, Stadt, sind zwei verfeindete Fußballklubs und der historische Graben zwischen Katholiken und Protestanten. Die verbotene Stadt, das habe ich festgestellt, hat ein anderes Selbstverständnis, als die Trutzburg im Osten vom Westen. In der verbotenen Stadt nämlich, glauben Mann, Frau und Kind, dass sie auf einem wunderschönen Edelstein leben. Das ist hier anders, obwohl Bielefeld tatsächlich größer ist als M***ter. Die gegenseitige Ignoranz geht sogar so weit, dass eine gute Zug- oder Autoverbindung aus meiner Sicht absichtlich verhindert wird. Mit dem KFZ lassen sich die gut 60 km nicht unter einer Stunde und 15 Minuten überwinden, meistens dauert es aber deutlich länger, weil ein LKW auf der Landstraße schleicht, oder ein MS-Kennzeichen dich wegen deinem BI-Kennzeichen ausbremst.
Erste Begegnungen mit Ostwestfalen sind zäh.
Es sei denn es ist Schnaps im Spiel. Nach 19 Kurzen könnte es nämlich passieren, dass der Ostwestfale auch mal was persönliches von sich preisgibt.
Es braucht Geduld und dauert lang, den „Menschenschlach“ zu erreichen. Die ostwestfälische Seele liegt versteckt, wie ein Tümpel im Teutoburger Wald, gefüllt mit Blättern und Wurzelwerk. Wer sich die Mühe macht, das Geflecht zu durchdringen, der findet irgendwann, wie Bilbo Beutlin, einen goldenen Ring. Der glänzt, kann dich aber auch unsichtbar machen. Er ist der Kern der ostwestfälischen Seele. Wer ihn finden will, muss hartnäckig sein und im Wirrwarr des Blattwerks viel ertragen können.
Der „gemeine Ostwestfale“ kann freilich auch eine Ostwestfälin sein. Ich möchte jetzt aber nicht anfangen Ostwestfalen neudeutsch in einem Wort zu gendern. Ostwestfal*in oder so? „Klingt komisch, also lassen wir das“ – ein Satz, der übrigens vom Ostwestfalen selbst stammen könnte. Also: „Der Ostwestfale“, der auch eine Frau sein könnte – und auch in Kindern kann man ihn manchmal schon entdecken. Ein Mensch, eindeutig ohne Hang zur Überschwänglichkeit, aber trotzdem liebenswert.
Der Ostwestfale ist gerne bei sich
Zu Anfang meiner Bielefeld-Zeit dachte ich oft, wenn etwa beim Bäcker nicht zurück gegrüßt wurde: „Oh… schwierig.“ Aber heute liebe ich dieses Verhalten. Der überschwängliche Pessimismus, wenn ein Meckerrentner bei Arminia-Bielefeld-Spielen wieder ein 0:3 voraussagt, wenn die Truppe einen guten Tag hat versteht sich (OK, in letzter Zeit sind solche Statements auch hier weniger geworden, da Arminia ungewohnter Weise kaum noch für Kopfschütteln sorgt). Oder die Selbstironie, wenn das ganze Stadion dem Gegner aus Wolfsburg „Ihr könnt nach Hause fahrn“ zuruft, noch eine Stunde nach Abpfiff. Dabei ist man gerade mit einer 0:4-Schlappe aus dem Pokal geflogen. Das löst sogar bei TV-Experten eine ostwestfälische „Gänsehautentzündung“ aus.Ostwestfalen haben einen eigenwilligen Humor, den nicht jeder versteht. Keine abgedroschenen Schenkelklopfer, Witz-komm-raus-Lachbrüller à la Mario Barth, sondern eher ein von Ironie und Sarkasmus geprägtes Amüsement, begleitet von einem leichten Anflug einer drohenden Depression. Ich mag das. Erzwungene Albernheiten a la Mario Barth sind nach Jahren der Ostwestfalisierung nur noch schwer zu ertragen.

Euphorie kennt der Ostwestfale auch, er drückt seine glückselige Stimmungslage nur anders aus. Wo der Rheinländer schon dreihundert Mal „jebüzzt“ hätte, kommt dem Ostwestfalen maximal ein „kann man so machen“ über die Lippen, begleitet von einem halbgaren Schulterzucken.
Seine expressive Art lässt sich auch beobachten, wenn es mal etwas zu feiern gibt. In Bielefeld braucht man dafür nicht den Karneval, als Lizenz zum lustig sein, hier geht’s auch ohne Anlass. Gehen die Klänge richtig ins Ohr, dann kann man bei genauem Hinsehen erkennen, wie die ostwestfälischen Fußspitzen langsam aber stetig auf und nieder wippen. In anderen Kulturkreisen würden jetzt schon wild die Hüften zirkeln, hier, lässt sich die Ekstase maximal zum erhobenen Zeigefinger steigern, der im Takt vor und zurück zuckt. Der Mut einen richtigen Tanz zu wagen, muss hierzulande erst angetrunken werden.
Ich empfehle ein Experiment: Einfach auf der Straße grüßen oder ein lautes „frohes Neues“ oder „frohe Ostern“ zurufen: Der OWLer schreckt verstört zusammen, grüßt dann aber manchmal – fast versehentlich – zurück.
Ein Anruf genügt
Auch wenn er schwer zugänglich ist, der Ostwestfale… Hat man ihn einmal geknackt, dann geht er mit dir durch Dick und Dünn. Unser lieber Freund Lothar aus Freiburg zum Beispiel, hatte immer wieder gehört, dass in diesen Breiten gerne Schnaps getrunken wird. Ganz von der Hand weisen lässt sich dieses Vorurteil sicher nicht, denn der Ostwestfale beschließt eine Freundschaft, oder zumindest gegenseitigen Respekt, gerne mit einem „Schluck“. Im ländlichen Raum ist das meistens „Klarer“ – Korn oder Wacholder. Wobei die Frauen traditionell eher den roten Wacholder „wegschnäppern“. Und hat man dann zu viel vom „Schluck“ geschluckt, weil man vielleicht zu euphorisch war und an einem Abend zu viele ostwestfälische Freunde gewonnen hat, dann endet die Heimfahrt um zwei Uhr nachts im Graben. Und dann ist der Moment da, wo der Ostwestfale seine unumstößliche Treue zeigt. Mitten in der Nacht steht er mit roter Nase und hochgekrempelten Ärmeln da und zieht den Karren aus dem Dreck. So isser halt.Dickköpfe
Was aber wieder richtig nerven kann, ist die herrliche Sturheit, auf die mancheiner hier nahezu stolz zu sein scheint. So fahre ich etwa in eine kleine Straße hinein, auf der meinerseits Autos parken. Laut der heiligen Kuh mit dem sexy Namen „Straßenverkehrsordnung – StVO“ muss ich warten, bis der Gegenverkehr durch ist. Hab ich verpennt und stehe jetzt vor einer dicken Motorhaube, aus der quiekende Schreie ertönen, wie aus einer Ferkelmast. Dahinter die Windschutzscheibe und wieder dahinter ein eulenartiges Gesicht, mit aufgerissenen Telleraugen und klauenartigen Händen am Lenker, aus denen die Knöchel weiß hervorstechen. Ein Ausweichen auf den abgesenkten Bordstein ist diesem Exemplar offenbar nicht möglich, es besteht stur auf sein Recht, bis ich, und weitere aufgestaute Autos, wie eine abgeschleppte Eisenbahn zurücksetzen müssen.
Auch schön, wenn hier in Ostwestfalen ein Konflikt nicht ausgesprochen, sondern stattdessen auf unbestimmte Zeit der Kontakt eingestellt wird. So wie der Amateurfußballer aus Bielefeld-Sieker, der wegen einer Meinungsverschiedenheit auf dem Bolzplatz, kommentarlos nach Hause ging, daraufhin das Telefon ignorierte und über zehn Jahre jede Begegnung mit seinem Team verweigerte.
Oder ein Ereignis an einem kalten Wintermorgen in Bielefeld-Mitte: Mein greiser Mazda wollte mal wieder nicht anspringen und otterte nur so vor sich hin. Ich sah schon meine Felle davonschwimmen, als doch noch ein friedliches Brummen erklang. Mir fiel ein, dass ich ein paar Dinge in der Wohnung vergessen hatte, ließ den Motor laufen und bewegte mich in Richtung Haustür. Eine große Dampfwolke entstieg dem kalten Motor und tauchte den Morgen in ein herrliches Weißgrau. Plötzlich erklang ein dumpfes, aber liebliches „Toktok, toktoktok, toktok“. Wie schön, dachte ich. Ein Specht, mitten in der Stadt, der im kargen Baumbestand eine warme Höhle hackt. Ich schob den Schlüssel ins Haustürschloss, da erklang das Gehämmer wieder, nur diesmal unnatürlich laut. Ich drehte mich um und sah ihm direkt in die Augen, dem Specht. Ein Mann Mitte 50 blickte entgeistert durch die geschlossene Scheibe gegenüber und signalisierte per Zeichensprache, dass ich den verdammten Motor abschalten solle, da ihm sonst der Erstickungstot drohe.
Zur Erinnerung: Dieser Ostwestfale ist keine frische Landluft gewöhnt, sondern lebt und wirkt mitten in der Innenstadt.
Ich lächelte freundlich und dachte, das muss ich kurz erklären und dann versteht der Mann, dass ich den mühevoll gestarteten Motor nicht einfach wieder abstellen kann. Per Zeichensprache signalisierte ich dem Wüterich, er möge doch das Fenster kurz öffnen, um dem gesprochenen Wort eine Chance zu geben. Da war er aber schon dazu übergegangen, den Scheibenwischer vor seiner Visage kreiseln zu lassen und mit der anderen Hand den Stinkefinger auszuklappen.
Tja, was man nicht alles mitmacht, ehe man untern Torf kommt, würde ein Freund aus Bielefeld jetzt sagen. Aber wenn man diese Alltagskomik einmal akzeptiert hat, dann mag man sie irgendwann. Oft enden die Sturheitskonflikte auch in herzhaftem Lachen, weil beide Seiten mal wieder besonders Stolz sind, auf ihre ostwestfälische Performance.

Nicht mit uns
Im Übrigen hat die Sturheit wirklich gute Seiten. Wenn wir Bielefelder auf irgendwas keinen Bock haben, dann haben wir darauf keinen Bock und zeigen es auch. Jüngstes Beispiel, als sich am 9. November 2019 über 14.000 Menschen einem elenden Haufen von rund 200 Nazis, Verschwörungsfanatikern und Holocaustleugnern entgegenstellte. Die Splitterpartei „Die Rechte“ hatte einige Skins aus dem Ruhrgebiet und anderen Regionen der Republik mobilisiert, um einer verurteilten Holocaust-Leugnerin zum 92. Geburtstag zu gratulieren – die dummer Weise in der JVA Bielefeld-Brackwede einsitzt. Der hiesige SPD-Bürgermeister (einer der letzten seiner Art), steht dann in der ersten Reihe und brüllt „Nazis raus!“ Er war auch der erste OB einer deutschen Großstadt, der öffentlich verkündet hat minderjährige Bootsflüchtlinge in Bielefeld aufzunehmen, wohlbemerkt entgegen der weitverbreiteten egozentrischen Stimmung in Deutschland, sich nur um den eigenen Vorgarten kümmern zu wollen. Der OB blieb ostwestfälisch stur bei seiner Meinung, die von vielen (nicht allen) Bielefeldern mitgetragen wurde.
Bei Arminia Bielefeld Heimspielen, wird der Stadionsprecher nie müde zu betonen, dass „NIEMAND den Teutoburger Wald erobert“. Und ja, wenn man die Menschen hier so erlebt, dann entstehen Bilder im Kopf, wie eine Meute wilder Langbärte und draller Dirnen, die Hänge des Teutos hinabstürmen, um die Eindringlinge mit ihren Keulen in den ostwestfälischen Lehm zu kloppen. „Stur, hartnäckig, kämpferisch“, wie es ebenfalls bei Arminia Bielefeld heißt.Passend dazu auch der Schlachtruf „Ostwestfalen, Idiiiioooooten sch*** Armiiiiiniiiiiiaa Bielefeeeeeld“, mit dem die Arminen-Fans sich lauthals selbst veräppeln. Ein Verhalten, dass dem Zufallsgast Lothar aus Freiburg sicher auch nicht einleuchten würde.
Darauf einen „Schluck“, du kleiner Wachholder.