Eine unsachliche, tendenziöse Schreiberei, voller Vorurteile und subjektiver Einordnungen. Gesponnen von Max Meis.

Lothars erstes Date

Hin und wieder kommt es vor, dass Durchreisende am Bielefelder Hauptbahnhof ausgespuckt werden und dort erstmal verweilen müssen. Sind die ersten Flüche auf die Bahn verhallt, geht der Weg zum Infoschalter, nur um herauszufinden, dass nichts mehr geht und der Aufenthalt wohl ein paar Stunden dauern wird. Der Frust verebbt erst über der Zwiebel-rosigen Oberfläche einer heimischen Metthälfte und einem Becher Altöl-Käffchen.

Lothar ist so ein Bahnopfer – Lothar aus Freiburg. Er hockt in der überfüllten Bielefelder Bahnhofshalle und hat den Kaffee auf. Der Pappbecher fliegt in die Tonne und Lothar tritt hinaus, auf den Bahnhofsvorplatz. Grau in Grau jagen sich Wolkenfetzen am Himmel, die Luft ist frisch und kühl. Leicht aufgeweckt schlendert der Gestrandete los und langsam wächst die Bereitschaft in ihm, Bielefeld eine Chance zu geben.

Er weiß nichts über diesen Ort und den Landstrich, der ihn umgibt. Schon gar nicht über die Menschen hier – er kennt niemanden aus der Region. An einer Steinbank lehnt ein Pappschild, darauf hat jemand eine hutzelige Eule mit riesigen Augen gekritzelt und in großen Lettern geschrieben „OWL heißt dich Willkommen, liebe Bärbel“

Tatsächlich schleichen die Passanten an diesem kühlen Wintertag wie lautlose Eulen um die Häuserblocks. Bloß nicht angesprochen werden. Blick nach unten, Flügel schlagen und wech.

Lothar ist keine 50 Meter gegangen, da warnt ihn ein Mann in der Uniform einer Security-Firma, er solle seinen Jutebeutel lieber nicht so achtlos über die Schulter werfen, hier gäbe es „Ratten“, die es auf seine Habe abgesehen hätten. Der Freiburger schaut sich um und erblickt eine Truppe Trunkenbolde direkt am Eingang zur U-Bahn, die ihn freundlich angrinsen.

U-Bahnhof, genannt „Die Tüte“

Keine Dreisam, keine lieblichen Wasserläufe durch historische Gässchen, keine Romantik. Als Lothar einen Passanten anspricht, ob Bielefeld auch Wasser hätte, zuckt der nur mit den Schultern. „Geht so, ne. Aber is nich schlimm, kannste wenigstens nich besoffen reinfallen.“ Augenzwinker. Lothars Geduld für „Liebefeld“ und OWL ist am Ende. Er wendet sich wieder dem Bahnhof zu, will lieber dort warten, als hier weiter auf Granit zu beißen.

Der mürrische Leineweber

Wieder einmal hat die Stadt am Teutoburger Wald ein erstes Date verspielt. Sie ist eben eine von jenen verschüchterten, aber liebenswerten Damen, die erst beim zweiten oder dritten Treffen ihre Sprache finden – das Mauerblümchen unter den deutschen Großstädten.

Warum sage ich das?

Nun, ich selbst komme mittlerweile hier „wech“. Geboren wurde ich in der verbotenen Stadt oder „Telgte-West“, wie man hier in Bielefeld zu sagen pflegt. Grund für die Ablehnung der, nur rund 60 km Luftlinie entfernten, Stadt, sind zwei verfeindete Fußballklubs und der historische Graben zwischen Katholiken und Protestanten. Die verbotene Stadt, das habe ich festgestellt, hat ein anderes Selbstverständnis, als die Trutzburg im Osten vom Westen. In der verbotenen Stadt nämlich, glauben Mann, Frau und Kind, dass sie auf einem wunderschönen Edelstein leben. Das ist hier anders, obwohl Bielefeld tatsächlich größer ist als M***ter. Die gegenseitige Ignoranz geht sogar so weit, dass eine gute Zug- oder Autoverbindung aus meiner Sicht absichtlich verhindert wird. Mit dem KFZ lassen sich die gut 60 km nicht unter einer Stunde und 15 Minuten überwinden, meistens dauert es aber deutlich länger, weil ein LKW auf der Landstraße schleicht, oder ein MS-Kennzeichen dich wegen deinem BI-Kennzeichen ausbremst.

Erste Begegnungen mit Ostwestfalen sind zäh.

Es sei denn es ist Schnaps im Spiel. Nach 19 Kurzen könnte es nämlich passieren, dass der Ostwestfale auch mal was persönliches von sich preisgibt.

Es braucht Geduld und dauert lang, den „Menschenschlach“ zu erreichen. Die ostwestfälische Seele liegt versteckt, wie ein Tümpel im Teutoburger Wald, gefüllt mit Blättern und Wurzelwerk. Wer sich die Mühe macht, das Geflecht zu durchdringen, der findet irgendwann, wie Bilbo Beutlin, einen goldenen Ring. Der glänzt, kann dich aber auch unsichtbar machen. Er ist der Kern der ostwestfälischen Seele. Wer ihn finden will, muss hartnäckig sein und im Wirrwarr des Blattwerks viel ertragen können.

Der „gemeine Ostwestfale“ kann freilich auch eine Ostwestfälin sein. Ich möchte jetzt aber nicht anfangen Ostwestfalen neudeutsch in einem Wort zu gendern. Ostwestfal*in oder so? „Klingt komisch, also lassen wir das“ – ein Satz, der übrigens vom Ostwestfalen selbst stammen könnte. Also: „Der Ostwestfale“, der auch eine Frau sein könnte – und auch in Kindern kann man ihn manchmal schon entdecken. Ein Mensch, eindeutig ohne Hang zur Überschwänglichkeit, aber trotzdem liebenswert.

Der Ostwestfale ist gerne bei sich

Zu Anfang meiner Bielefeld-Zeit dachte ich oft, wenn etwa beim Bäcker nicht zurück gegrüßt wurde: „Oh… schwierig.“ Aber heute liebe ich dieses Verhalten. Der überschwängliche Pessimismus, wenn ein Meckerrentner bei Arminia-Bielefeld-Spielen wieder ein 0:3 voraussagt, wenn die Truppe einen guten Tag hat versteht sich (OK, in letzter Zeit sind solche Statements auch hier weniger geworden, da Arminia ungewohnter Weise kaum noch für Kopfschütteln sorgt). Oder die Selbstironie, wenn das ganze Stadion dem Gegner aus Wolfsburg „Ihr könnt nach Hause fahrn“ zuruft, noch eine Stunde nach Abpfiff. Dabei ist man gerade mit einer 0:4-Schlappe aus dem Pokal geflogen. Das löst sogar bei TV-Experten eine ostwestfälische „Gänsehautentzündung“ aus.

Ostwestfalen haben einen eigenwilligen Humor, den nicht jeder versteht. Keine abgedroschenen Schenkelklopfer, Witz-komm-raus-Lachbrüller à la Mario Barth, sondern eher ein von Ironie und Sarkasmus geprägtes Amüsement, begleitet von einem leichten Anflug einer drohenden Depression. Ich mag das. Erzwungene Albernheiten a la Mario Barth sind nach Jahren der Ostwestfalisierung nur noch schwer zu ertragen.

Das Werk eines Bielefelder Plakatklebers

Euphorie kennt der Ostwestfale auch, er drückt seine glückselige Stimmungslage nur anders aus. Wo der Rheinländer schon dreihundert Mal „jebüzzt“ hätte, kommt dem Ostwestfalen maximal ein „kann man so machen“ über die Lippen, begleitet von einem halbgaren Schulterzucken.

Seine expressive Art lässt sich auch beobachten, wenn es mal etwas zu feiern gibt. In Bielefeld braucht man dafür nicht den Karneval, als Lizenz zum lustig sein, hier geht’s auch ohne Anlass. Gehen die Klänge richtig ins Ohr, dann kann man bei genauem Hinsehen erkennen, wie die ostwestfälischen Fußspitzen langsam aber stetig auf und nieder wippen. In anderen Kulturkreisen würden jetzt schon wild die Hüften zirkeln, hier, lässt sich die Ekstase maximal zum erhobenen Zeigefinger steigern, der im Takt vor und zurück zuckt. Der Mut einen richtigen Tanz zu wagen, muss hierzulande erst angetrunken werden.

Ich empfehle ein Experiment: Einfach auf der Straße grüßen oder ein lautes „frohes Neues“ oder „frohe Ostern“ zurufen: Der OWLer schreckt verstört zusammen, grüßt dann aber manchmal – fast versehentlich – zurück.

Ein Anruf genügt

Auch wenn er schwer zugänglich ist, der Ostwestfale… Hat man ihn einmal geknackt, dann geht er mit dir durch Dick und Dünn. Unser lieber Freund Lothar aus Freiburg zum Beispiel, hatte immer wieder gehört, dass in diesen Breiten gerne Schnaps getrunken wird. Ganz von der Hand weisen lässt sich dieses Vorurteil sicher nicht, denn der Ostwestfale beschließt eine Freundschaft, oder zumindest gegenseitigen Respekt, gerne mit einem „Schluck“. Im ländlichen Raum ist das meistens „Klarer“ – Korn oder Wacholder. Wobei die Frauen traditionell eher den roten Wacholder „wegschnäppern“. Und hat man dann zu viel vom „Schluck“ geschluckt, weil man vielleicht zu euphorisch war und an einem Abend zu viele ostwestfälische Freunde gewonnen hat, dann endet die Heimfahrt um zwei Uhr nachts im Graben. Und dann ist der Moment da, wo der Ostwestfale seine unumstößliche Treue zeigt. Mitten in der Nacht steht er mit roter Nase und hochgekrempelten Ärmeln da und zieht den Karren aus dem Dreck. So isser halt.

Dickköpfe

Was aber wieder richtig nerven kann, ist die herrliche Sturheit, auf die mancheiner hier nahezu stolz zu sein scheint. So fahre ich etwa in eine kleine Straße hinein, auf der meinerseits Autos parken. Laut der heiligen Kuh mit dem sexy Namen „Straßenverkehrsordnung – StVO“ muss ich warten, bis der Gegenverkehr durch ist. Hab ich verpennt und stehe jetzt vor einer dicken Motorhaube, aus der quiekende Schreie ertönen, wie aus einer Ferkelmast. Dahinter die Windschutzscheibe und wieder dahinter ein eulenartiges Gesicht, mit aufgerissenen Telleraugen und klauenartigen Händen am Lenker, aus denen die Knöchel weiß hervorstechen. Ein Ausweichen auf den abgesenkten Bordstein ist diesem Exemplar offenbar nicht möglich, es besteht stur auf sein Recht, bis ich, und weitere aufgestaute Autos, wie eine abgeschleppte Eisenbahn zurücksetzen müssen.
Ostwestfälischer Feldherr auf Schlacke

Auch schön, wenn hier in Ostwestfalen ein Konflikt nicht ausgesprochen, sondern stattdessen auf unbestimmte Zeit der Kontakt eingestellt wird. So wie der Amateurfußballer aus Bielefeld-Sieker, der wegen einer Meinungsverschiedenheit auf dem Bolzplatz, kommentarlos nach Hause ging, daraufhin das Telefon ignorierte und über zehn Jahre jede Begegnung mit seinem Team verweigerte.

Oder ein Ereignis an einem kalten Wintermorgen in Bielefeld-Mitte: Mein greiser Mazda wollte mal wieder nicht anspringen und otterte nur so vor sich hin. Ich sah schon meine Felle davonschwimmen, als doch noch ein friedliches Brummen erklang. Mir fiel ein, dass ich ein paar Dinge in der Wohnung vergessen hatte, ließ den Motor laufen und bewegte mich in Richtung Haustür. Eine große Dampfwolke entstieg dem kalten Motor und tauchte den Morgen in ein herrliches Weißgrau. Plötzlich erklang ein dumpfes, aber liebliches „Toktok, toktoktok, toktok“. Wie schön, dachte ich. Ein Specht, mitten in der Stadt, der im kargen Baumbestand eine warme Höhle hackt. Ich schob den Schlüssel ins Haustürschloss, da erklang das Gehämmer wieder, nur diesmal unnatürlich laut. Ich drehte mich um und sah ihm direkt in die Augen, dem Specht. Ein Mann Mitte 50 blickte entgeistert durch die geschlossene Scheibe gegenüber und signalisierte per Zeichensprache, dass ich den verdammten Motor abschalten solle, da ihm sonst der Erstickungstot drohe.

Zur Erinnerung: Dieser Ostwestfale ist keine frische Landluft gewöhnt, sondern lebt und wirkt mitten in der Innenstadt.

Ich lächelte freundlich und dachte, das muss ich kurz erklären und dann versteht der Mann, dass ich den mühevoll gestarteten Motor nicht einfach wieder abstellen kann. Per Zeichensprache signalisierte ich dem Wüterich, er möge doch das Fenster kurz öffnen, um dem gesprochenen Wort eine Chance zu geben. Da war er aber schon dazu übergegangen, den Scheibenwischer vor seiner Visage kreiseln zu lassen und mit der anderen Hand den Stinkefinger auszuklappen.

Tja, was man nicht alles mitmacht, ehe man untern Torf kommt, würde ein Freund aus Bielefeld jetzt sagen. Aber wenn man diese Alltagskomik einmal akzeptiert hat, dann mag man sie irgendwann. Oft enden die Sturheitskonflikte auch in herzhaftem Lachen, weil beide Seiten mal wieder besonders Stolz sind, auf ihre ostwestfälische Performance.

OWL

Nicht mit uns

Im Übrigen hat die Sturheit wirklich gute Seiten. Wenn wir Bielefelder auf irgendwas keinen Bock haben, dann haben wir darauf keinen Bock und zeigen es auch. Jüngstes Beispiel, als sich am 9. November 2019 über 14.000 Menschen einem elenden Haufen von rund 200 Nazis, Verschwörungsfanatikern und Holocaustleugnern entgegenstellte. Die Splitterpartei „Die Rechte“ hatte einige Skins aus dem Ruhrgebiet und anderen Regionen der Republik mobilisiert, um einer verurteilten Holocaust-Leugnerin zum 92. Geburtstag zu gratulieren – die dummer Weise in der JVA Bielefeld-Brackwede einsitzt. Der hiesige SPD-Bürgermeister (einer der letzten seiner Art), steht dann in der ersten Reihe und brüllt „Nazis raus!“ Er war auch der erste OB einer deutschen Großstadt, der öffentlich verkündet hat minderjährige Bootsflüchtlinge in Bielefeld aufzunehmen, wohlbemerkt entgegen der weitverbreiteten egozentrischen Stimmung in Deutschland, sich nur um den eigenen Vorgarten kümmern zu wollen. Der OB blieb ostwestfälisch stur bei seiner Meinung, die von vielen (nicht allen) Bielefeldern mitgetragen wurde.

Bei Arminia Bielefeld Heimspielen, wird der Stadionsprecher nie müde zu betonen, dass „NIEMAND den Teutoburger Wald erobert“. Und ja, wenn man die Menschen hier so erlebt, dann entstehen Bilder im Kopf, wie eine Meute wilder Langbärte und draller Dirnen, die Hänge des Teutos hinabstürmen, um die Eindringlinge mit ihren Keulen in den ostwestfälischen Lehm zu kloppen. „Stur, hartnäckig, kämpferisch“, wie es ebenfalls bei Arminia Bielefeld heißt.

Passend dazu auch der Schlachtruf „Ostwestfalen, Idiiiioooooten sch*** Armiiiiiniiiiiiaa Bielefeeeeeld“, mit dem die Arminen-Fans sich lauthals selbst veräppeln. Ein Verhalten, dass dem Zufallsgast Lothar aus Freiburg sicher auch nicht einleuchten würde.

Darauf einen „Schluck“, du kleiner Wachholder.

Es kann durchaus entlarvend sein, wenn die ersten, unvoreingenommenen Eindrücke niedergeschrieben werden, statt alles mit Wissen zu unterfüttern. Beim Titel habe ich mich bei gleichnamiger Gastro-Kette bedient, weil ich mich schon öfter gefragt hab, wie viel Bar in Barcelona steckt…

Um die Mittagszeit an einem wunderschönen Frühlingstag fahren wir über die Küstenautobahn, aus dem Süden kommend, in die weltberühmte Metropole und heimliche Hauptstadt der verhinderten Republik Katalonien.

Dank Google-Maps gelangen wir in ein Parkhaus in der Nähe der Rambla, der großen Flaniermeile, von der alle immer reden. Fast 50 Euro kosten hier 24 Stunden beschütztes Parken, egal, wir stellen unseren Golf zwischen Porsche Cayenne und Audi Q7 ab und treten ins Freie.

Ausgespuckt in einer Gasse, die so garnicht zu dem edlen Parkhaus passt, gehen wir in Richtung La Rambla, um einzutauchen ins pulsierende Leben von Barcelona.

In der Gasse zählen wir an die 30 Handyshops, betrieben von Pakistanis, wie uns ein Pizzabäcker verrät; verlebte Prostituierte, Drogenabhängige, komplett Desillusionierte. Ein unangenehmes Gefühl: lieber die Hände in den Taschen behalten, Handy und Portemonnaie eng umklammert. Nichts besonderes, Großstadt eben.

Dann stehen wir plötzlich auf La Rambla und gehen langsam Richtung Plaça de Catalunya, wie Google-Maps verrät. Auf den paar hundert Metern hören wir gefühlt alle Sprachen der Welt. Selfiesticks, klickende Kameras, vor den Bauch geschnallte Rucksäcke, panisch umklammerte Handtaschen. Dazwischen Straßenhändler, Tagelöhner, Kleinkriminelle, Polizei. Und immer wieder: „Coffee-Shop, fine Weed, good Price, 4G – only 20 dollars.“

Abgebogen in die Markthalle von St Josep, stehen wir eingekeilt im Gedränge. Offensichtlich kein Geheimtipp, aber beeindruckend. Obst, Gemüse, Fleisch, Fisch, Gewürze, Tapas und und und… Und ein Eierstand:

Zurück auf die Rambla und dann stehen wir auf der Plaça de Catalunya in einer Taubenplage. Mein Opa hätte spätestens jetzt die Schrotflinte eingesetzt – wäre hier aber nicht erwünscht gewesen. Im Gegenteil! Die Masse der grau gefiederten Wesen wurde längst als Touristenattraktion entdeckt. Damen in weißen Gewändern laufen herum, streuen den Reisenden Reis in die Hände und helfen beim Erstellen des Tauben-Schusses – mit Smartphone, nicht mit Schrotflinte. Mein Opa hätte das nie begriffen – Gott hab ihn selig.

Jetzt zu Fuß zur Sagrada Familia, dem Wahrzeichen der Stadt. Häuserblock für Häuserblock zu Fuß. Orientierung ist leicht, denn jeder Block ist gleich groß – Schachfelder, begrenzt von Straßen, wie in den jungen Städten Amerikas. Warum das so geometrisch einheitlich ist? Keine Ahnung, habs nicht recherchiert, ist aber praktisch.

Barcelona wird „normaler“ mit jedem Schritt, den wir zwischen uns und La Rambla bringen. Leute, die hier leben, ihrem Tagwerk nachgehen, in den Tapasbars Mittag essen. Und dann, nach einer halben Stunde Fußmarsch, erhebt sich vor uns: La Sagrada Familia, die sagenumwobene Kathedrale von Gaudí, die auch die Euro-Münzen ziert; und die seit einer Ewigkeit restauriert wird. Eine riesenhafte Schönheit aus Stein, grazil und schwer zugleich, einfach atemberaubend. Auch wenn man sich immer wieder fragt, ob es richtig ist Millionen und Milliarden in alte Bauwerke zu stecken, bei dem Anblick ist es für einen Moment egal.

Zurück zum Plaça de Catalunya mit dem Bus, dann eine Nebenstraße der Rambla hinunter, zum Parlament von Katalonien. Groß über dem Eingang prangt Artikel 19 der Menscherechts-Charta: „Das Recht auf freie Meinung und Meinungsäußerung“. Und da wären wir bei der heißen Politik in Katalonien. Was wohl dabei rauskommen würde, wenn hier alle wirklich einmal frei ihre Meinung über ihr Verhältnis zum Rest von Spanien äußern dürften. Also ganz ohne Knüppel, Verhaftungen und Flucht. Von vielen Hausfassaden grüßt jedenfalls eine einhellige Meinung.

Auf dem Weg zurück zum Auto: Auf der Rambla locken jetzt überall Kellner in die charmanten Sitzgruppen unter Zeltplane. Auf ein kühles Bier, Paella für unter 10 Euro, das Leben genießen.

Eine Gruppe Hare-Krishna-Verehrer tingelt die Rambla hinab. Frauen mit Seidentüchern vorneweg, die die Touris zum Tänzchen einladen. Einhaken, einmal im Kreis, Selfie und dabei „Hare-Krishna, Hare, Hare“ aus einer scheppernden Box auf einem Bollerwagen.

Umkreist wird die Gruppe außerdem von einer vollgepumpten Dame mit weit aufgerissenen Augen, die ständig mit Stinkefinger und Faust droht. Und immer wieder den Zeigefinger zu einer Pistole formt, mit der sie einen Krishna nach dem anderen abknallt – zumindest in ihrer Drogenverschleierten Welt scheint das gerade so abzulaufen.

Wäre Barcelona in der Tat eine Bar, dann eine, in der alle zuhause sind: Die, die Caviar fressen und Martini schlürfen, die, die am MacBook sitzen und wichtig sind, die, die die anderen bedienen, die, die nur ein Bier trinken, und eben jene, die rotzevoll unterm Tresen liegen.

„Der Karren steht immer noch nicht gerade“, schimpft Hubert und schlägt dem Ei wütend den Kopf ab. Else sagt nichts. Minutenlang klappern nur Kaffeetassen, Messer und Eierlöffel im Innenraum des silbergrauen Campingwagens.

Ein Furz zerreißt die Stille, aber auch der bleibt unerwidert. Beide haben sich dran gewöhnt, dass die Luft immer öfter ohne Passierschein entweicht. Ist halt so, da kann man nichts machen. Vor allem Else hat’s mit den Flatulenzen. Aber nach über 40 Jahren Ehe, erträgt die Beziehung so einiges.

Wortlos steht Else auf und beginnt mit dem Abwasch. Ein bißchen Pril aufs Schwämmchen, alles einmal durchwischen, mit klarem Wasser abspülen und zum Trocknen abstellen.

Hubert blickt immer noch entgeistert in seine Kaffeetasse, in der der letzte Schluck noch hängt und ein Problem offensichtlich macht: Der verdammte Wagen ist nicht in Waage! Dabei hatte er doch immer wieder die kleine Wasserwaage bedient und das Gefährt mit den Metallstützen perfekt nivelliert.

Wütend stapft er ins Freie und stolpert dabei fast über Schröder, den alten Schäferhund. Dann sieht er das Problem und erschrickt. Eine der eisernen Stützen am Heck des Wagens hat dem Rost nachgegeben und ist durchgebogen. Genau an der Seite auf der Hubert immer pennt.

„Hab dir tausend Mal gesagt, du sollst dich abends nicht so ins Bett schleudern“, hört er Else sagen – ihre ersten Worte heute. Sie steht neben ihm, Kreuzworträtsel und Kuli in der Hand. Hubert grunzt nur mürrisch. In der Tat erinnerte er sich, dass bei seinem abendlichen Ritual ein leichtes Knacken zu hören war: Die 100 Kilo auf die Bettkante absetzen, Schlappen in hohem Bogen direkt vom Fuß in die Besenecke feuern, vorbeugen, Arme ausstrecken und mit Schwung nach hinten, so dass er mit dem Kopf direkt vor der Heckscheibe zum Stillstand kommt. „Knack“ – ja so muss es passiert sein. Nur das ging Else jetzt nichts an. Die liegt jetzt eh schon auf ihrer Bahre in der Sonne und zerbricht sich die Rübe über ihren Kreuzworträtseln.

Hubert hat jetzt wenigstens ein Projekt. Er nickt zufrieden, steigt in den greisen Ford Mondeo und lenkt vom Campingplatz. Richtung: Baumarkt – einem seiner Lieblingsorte.

Problem nur, dass er in Südspanien ist und nicht im heimischen Ottmarsbocholt. Er nimmt allen Mut zusammen, hält an, kurbelt die Scheibe herunter … und:

„Donde esta la … ähm … Baumarkt, Obi, Hornbach, wie auch immer… Bauhaus. Mist.“

Irgendeins der Worte, die Hubert abgefeuert hat, bringt die ältere Dame, die er angequatscht hat, in Fahrt. Wild gestikulierend deutet sie nach links und rechts und geradeaus, begleitet von einem Wortschwall von dem der Arme Hubert garnichts mitnimmt. „Gracias“, entfährt es ihm und er drückt das Gas durch.

Am Nachmittag taucht der olle, aber gut gepflegte, Mondeo endlich wieder auf. So sehr ihr Hubert sie auch nervt, wenn er zu lange wegbleibt, schalten sich die Sorgen automatisch ein bei Else. Sie schimpft ihn aus – Gewohnheit – er hört kaum zu.

Einen Baumarkt hat er nicht gefunden, der Mondeo ächzt aber unter der Last einiger Waschbetonplatten, die er an einem verwaisten Schotterparkplatz aufgelesen hat – ständig von der Angst geritten erwischt zu werden.

Jetzt ist der 100-Kilo-Mann erschöpft und freut sich über den aufgestellten Klapptisch, die Kekse und die hässliche Kaffeekanne. Später, nach einem Schläfchen, wird er den Wagen neu aufbocken.

Ein Projekt.

Sonst..: Nichts. Außer dem Üblichen.

Basierend auf einer wahren Begebenheit.

Knirschenden Schrittes gehe ich die kleine Palmenallee entlang. Rechts und links des geschotterten Pfades reihen sich Stellplätze für Wohnmobile aneinander. Die meisten sind zu dieser Jahreszeit noch unbelegt. Dann plötzlich schrecke ich aus meinen Tagträumen: Eine Gruppe Menschen steht um ein Auto, darin eine Frau, von der ich nur die Hand sehe, die sich krampfhaft an der halb herunter gelassenen Scheibe festhält. Am Boden liegt eine seltsam gewölbte, goldene Wärmedecke, an den Rändern mit Steinen beschwert. Dann plötzlich hebt eine Windböe die glitzernde Folie leicht an. Wie aus dem nichts macht sich ein beklemmendes Gefühl breit – kalte Hände, die sich um den Hals legen. Mein Blick fällt auf eine Strähne – grau-silbriges Haar.

Eben noch schwirrte das ältere Ehepaar euphorisch um den etwas greisen Wohnwagen auf Parzelle 180 ihres Stammcampingplatzes an der Costa Brava. Er senkte die eisernen Stützen ab, natürlich präzise auf zwei extra ausgelegte Platten; sie trug die Teile des verblichenen Vorzelts ins Freie, bereit es gemeinsam aufzurichten. Routinierte Handgriffe, alles so wie sie es schon unzählige Male getan haben. Früher, in den 70er und 80er Jahren, mit ihren Kindern in den großen Ferien, dann allein in den Ferien und mittlerweile, als Rentner, wann immer ihnen danach ist.

Jetzt, nur wenige Minuten nach ihrer Ankunft liegt er tot zwischen Wohnwagen und Anhängerkupplung. Den Stecker für Rückleuchten und Blinker hatte er noch ziehen können, dann war er zur Seite gekippt und auf dem braun-grünen Rasen gelandet.

Das Geschrei seiner Frau riss die Nachbarn auf Stellplatz 181 – ebenfalls ein älteres Ehepaar – aus ihrer Mittagsruhe. Doch als die schnell alarmierte ambulancia eintrifft, liegt bereits eine bleierne Schwere über dem sonnenbeschienenen Campingplatz. Eine Gruppe Urlauber steht um die Frau versammelt, versucht unbeholfen das Unwirkliche begreifbar zu machen. Den Sanitätern bleibt nur eine gold glänzende Wärmedecke über den Toten zu legen.

Dann kommt die Mossos d’esquadra, die katalanische Polizei. Zwei Beamte nehmen ihre Arbeit auf, befragen Zeugen, kritzeln Worte und Zahlen in Formulare. Weil die Wärmedecke vom starken Wind immer wieder weggeweht wird, beschweren sie sie kurzerhand mit Steinen, rund um den leblosen Körper, der vor wenigen Minuten noch so quicklebendig war – voller Vorfreude auf einen Urlaub am Meer.

Drumherum geht das Leben gnadenlos seinen Gang. Menschen gehen Hand in Hand spazieren, sonnen sich vor ihren Wohnmobilen, trinken Kaffee oder spielen Karten.

Für diesen einen Mann endet sein Urlaub, bevor er richtig angefangen hat, zwischen Wohnwagen und Heckklappe, und damit auch sein ganzer Lebensweg. Was mag nun anstehen für seine Frau, die sich eben noch auf sonnige Wochen am Strand freute? Die Kinder anrufen, übernachten in irgendeinem Hotel, die Obduktion abwarten, den Verstorbenen nach Hause bringen, Beerdigung und danach das Leben alleine Meistern…

Auf dem Campingplatz sind die Spuren des tragischen Tages schnell verwischt. Der Wohnwagen steht noch da, das Auto ist weg, der Verstorbene auch. Die Nachbarn sind nicht zu sehen. Sonst sieht alles wieder normal aus. Hinter den Dünen rauscht das Meer.

„Einfach umgekippt“ sagt die Frau von der Rezeption. Ganz normal eingecheckt und fünf Minuten später lag er da. Bestimmt wird die Geschichte am Abend und in den nächsten Tagen noch einige Male erzählt, dann immer weniger und irgendwann läuft sie in der Rubrik, „es war einmal“ (am 19. März 2019 auf Parcela 180).

Geschüttelt vom starken Wind biegt sich die Palme vor einem herrlich blauen Himmel. Am Fuß der Pflanze lehnen Schubkarre, Harke und Spaten, gesäumt von frisch gesenstem Grün. Ein Stillleben in der Mittagszeit, Mitte März auf einem riesigen Campingplatz an der Costa Brava. Nicht der einzige Ort, der im Sommer zigtausende Sonnenanbeter anlocken soll und dafür gerade aus dem Winterschlaf geweckt wird.

An der Küste reihen sich Campingplätze, Feriendörfer und Bettenburgen aneinander, verweist, ausgestorben, menschenleer. Wir fahren die kurvige Küstenstraße entlang und stoßen überall auf das gleiche Bild: Ganze Freizeitparks auf Abruf; Riesenräder, Diskotheken, Bars – im Tiefschlaf seit Monaten. Oder durchstreifen wir doch eine Welt nach der nuklearen Katastrophe? Auf jeden Fall scheint hier alles von der warmen Hälfte des Jahres zu leben, wie ein riesiger Organismus, der die übrigen Monate in eine eigentümliche Starre verfällt. Gedankenspiele, die sich aufdrängen.

Gen Abend sehen wir hier und da Menschen auf Fahrrädern die Landstraßen entlang radeln oder strammen Schrittes die hochgeklappten Bürgersteige treten. Ein mühsamer Heimweg, nach getaner Arbeit, irgendwo tief in den schlafenden Urlaubsparadiesen. Fast alle von Ihnen – das fällt auf – haben schwarze Hautfarbe. Afrikaner, die helfen – sicher für faire Löhne und Arbeitsbedingungen – den Urlaubern aus dem Norden ihre Nester zu bereiten? Denn die werden bald einfallen, wie eine Heuschreckenplage, soviel ist sicher. Dann werden die, jetzt menschenleeren, Strände gepflastert sein, mit Handtüchern, Plastikspielzeug und Leibern, in allen Farben des Regenbogens. Strände, wie jene an denen viele Arbeiter aus Afrika einmal die Festung Europa betreten haben, glücklich überlebt zu haben, nicht ahnend, wie schwer es sein wird, in der neuen Welt. Solche Gedanken bewegen die Urlauber kaum. Sie haben verdient was sie haben, Montags bis Freitags im stressigen Job. Alles für ein paar Wochen am Strand.

Nach endlosen Kilometern an den verwaisten Campingplätzen vorbei, stoßen wir doch noch auf einen belebten Flecken Erde. „Guten Abend“ lautet die freundliche Begrüßung auf Deutsch. Seit drei Tagen haben sie geöffnet hier, teilt das blonde Mädel an der Rezeption uns mit; alles läuft schon – Supermarkt, Restaurant und Bar. Stolz lächelt sie uns an. Der Wind fegt, aber die Sonne scheint und es sind kaum Mücken oder anderes Stechgetier unterwegs. Man kann das Glas immer halb voll oder halb leer sehen, wie wir alle wissen.

Auf dem „deutschen“ Campingplatz, sind die Tagelöhner schon verschwunden, bald laufen sie mit Kaltgetränken den nahen Strand auf und ab. Hinterlassen haben sie saubere Stellplätze, mit akkurat geschnittenen Hecken. Und dort stehen auch schon die ersten Wohnmobile aus Essen, Düsseldorf und Co.

Hola, Costa Brava.

Von Levin Meis (20), seit Januar 2018 in Brasilien unterwegs.

Bahia, schon der Name strahlt einen Teil des Rhytmus und der Schönheit von diesem brasilianischen Staat aus. Mit einer Fläche so groß wie Frankreich, ist Bahia längst nicht der größte Staat der Föderation, dafür umso berühmter.

Die am nördlichen Küstenabschnitt gelegene Großstadt Salvador, repräsentierte die portugiesische Kolonie über Jahrhunderte als Hauptstadt und stellt bis heute ein kulturelles, wie wirtschaftliches Zentrum an der Ostküste Südamerikas dar.

Hier landeten die vollgepackten Sklavenschiffe und brachten eine unüberschaubare Anzahl Afrikaner ins Land, welche über Jahrhunderte die Wirtschaft der Portugiesen auf ihren Schultern tragen sollten.

Der afrikanische Einfluss spiegelt sich bis heute besonders in der Kultur wieder. Vieles, wie Religion oder Musik und Tanz, wurde beibehalten und hier, fern von den Kap Verden oder der Elfenbeinküste, auf eigene Art bewahrt. Dieser Stil, der über die Jahre immer aufgeschlossen war für neue Einflüsse, ist ein wichtiges Standbein der brasilianischen Identität geworden.

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Aber auch die Probleme Bahias, egal wohin man schaut, sind offensichtlich. Allgemein gilt in Brasilien, dass der Wohlstand, je weiter es nach Norden geht, immer weiter abnimmt. So gibt es in Bahia viele Menschen, die mit wenig klarkommen müssen und unter der Armutsgrenze leben.

Viele Baianos wohnen in einfachen Holzhütten, in kleinen Dörfern auf dem Land, umgeben von einer Natur, die so reich ist, dass sie schon ohne Bewirtschaftung viele Menschen ernähren könnte.

Biegt man in einer ländlichen Region kurz von der Straße ab und begibt sich auf einen kleinen Spaziergang durch den Wald, ist schnell deutlich, wie reichhaltig dieser Teil des atlantischen Regenwaldes ist, der sich fast über ganz Brasilien erstreckt. Papayas, Mangos, Avocados, Bananen, Ananas und eine unüberschaubare Anzahl essbarer Pflanzen füllt hier die Vegetation aus.

So ist es auch in der Umgebung von Itacaré, eine Kleinstadt, die sich in den letzten dreißig Jahren von einem fast unerreichbaren Fischerdorf zu einem touristischen Hotspot gewandelt hat. 250 km südlich der Hauptstadt Salvador, ist Itacaré heute ein hipper Surferort, der ein stetig wachsendes internationales Publikum anzieht.

Die Wellen und Strände haben Itacaré so bekannt gemacht, dass die besten Surfer der Welt sich hier regelmäßig den heranrollenden Wassermassen stellen.

Das Surfen verleiht der Kleinstadt den Flair, der die Reisenden der Welt so magisch anzieht.

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Weiter im Landesinneren, weg von den Reisebürokatalog-Stränden, gelangt man immer näher an den wahren Spirit von Bahia, von dem im ganzen Land erzählt wird. Das direkt an einem Fluss gelegene Dorf Taboquinhas verkörpert viel davon. Schon über 150 Jahre leben die Bewohner hier vom Kakao, der bis heute reichhaltig in den umliegenden Wäldern wächst. Die Bauern haben ihre kleinen Fazendas im ganzen Umland verstreut, überall da wo Platz ist und vorher niemand wohnte. Adresse? Baugenehmigung? Nicht nötig.

Auch hier sind die Leute eher arm als reich, unzufrieden scheinen sie aber nicht zu sein. Die Mentalität versprüht vielmehr Frohmut in einem sehr ausgeprägten Sozialleben.

Geht man allein durch eine mittelgroße Stadt in einer anderen Gegend der Welt, wird man meist allein und in Ruhe gelassen. Hier jedoch, sind Diskretion und Anonymität ein Ding der Unmöglichkeit. Taboquinhas lässt dich nicht einmal 25 Meter zur nächsten Padaria (Bäckerei) gehen, ohne dass du von mindestens drei Leuten überschwänglich begrüßt und in ein Gespräch verwickelt wurdest. „Mal eben Brötchen holen“ – nicht möglich, ohne wenigstens 30 Minuten aus dem Haus zu bleiben.

So sind Tugenden, die anderenorts in den großen Städten der Erde, sehr geschätzt werden, hier nahezu verpönt. Baianos sind von Natur aus lässig und entspannt. Alles läuft etwas langsamer ab und frei von irgendeinem Leistungsdruck.

Hier bleibt immer Zeit das gestrige Spiel der Selecaõ zu besprechen oder einfach den Alltag durch Pausen oder ähnliches ein wenig angenehmer zu gestalten.

In der idyllischen Natur der Umgebung liegen überall, von einfachen Pisten verbunden, die Häuser von Bauern und Arbeitern. Eine handbetriebene Fähre über den Fluss ist ganztägig von einem engagierten Bürger des Dorfes besetzt. Ein Fährmann, der mit dicken Lederhandschuhen das Boot an einem Stahlseil über den Fluss zieht und so die Bewohner von früh bis spät mit all ihrer Habe von einem Ufer zum anderen bringt.

Scharen von kleinen Affen bevölkern die Baumkronen der Wälder, die die Straßenränder der Region säumen. Entlang der Piste begegnen einem immer wieder Fußgänger, Reiter auf Maultieren, Motorräder und selten mal ein Auto, das von einer großen Staubwolke verfolgt wird.

Die meisten Menschen auf der anderen Seite des Flusses, leben in einfachen Hütten aus Holz und Stein. Das Leben dieser Baianos ist mit dem eines Selbstversorgers zu vergleichen. Viele pflanzen Maniok, Papayas, Bananen und andere essbare Früchte und profitieren von den Gaben des Waldes.

Ein Leben das vielleicht so manchem Europäer nicht genügen würde. Die Menschen der Hügel von Taboquinhas, geben sich jedoch damit zufrieden, sie sehen das Positive.

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Selbst die Bauern, die mit harter Arbeit die Kakaobäume in den Tiefen des Waldes ernten und pflegen, geben sich mit dem zufrieden was für ihr Leben reicht. Fast täglich ziehen sie, bewaffnet mit Macheten, in die Wälder, um sich den Pflanzen zu widmen. Sicher eine erfüllende Arbeit, zwischen riesigen Bäumen den Kakao zu pflegen und bei jeder Gelegenheit die bunten Früchte des Urwalds zu genießen. Jedoch fehlt oft eine Art ökonomischer Gedanke, der Arbeit und Lebensbedingungen vieler Leute hier verbessern könnte.

So leben viele Kleinbauern ganz allein von den Kakaobohnen der Wälder. Die Erträge der Bäume können allerdings von Jahr zu Jahr stark schwanken. Aggressiver Pilzbefall oder eine anhaltende Trockenphase können die Ernten stark dezimieren und dann hat die Familie noch weniger.

Dabei hätten andere Bäume und Sträucher, die sich rund um den Kakao in die Höhe recken, auch so viele Möglichkeiten zu bieten. Überall wachsen schließlich Früchte, zusätzlich Nelken, nutzbare Palmen und vieles mehr. Eine Chance die nur selten genutzt wird, denn diese Reichtümer werden von den Bauern oft einfach links liegen gelassen.

Die ungenutzten Möglichkeiten, grenzen den Wachstum der kleinen Fazendas erheblich ein. Den Männern Untätigkeit vorzuwerfen, wäre allerdings auch falsch. Sie arbeiten nicht nur hart und lange unter der schweißtreibenden Sonne von Bahia, sie bilden auch regionale Zusammenschlüsse. Dort werden Gedanken über die Vermarktung der Bohnen ausgetauscht, sowie über die Nachaltigkeit und Biodiversität des Waldes. In regelmäßigen Treffen arbeiten die Farmer an einer organischen Landwirtschaft, frei von Herbiziden und anderen Chemikalien. So werden die Schätze des Waldes mit zunehmendem Erfolg für die Zukunft gesichert. Wälder und Böden, stellen die natürlichen Ressourcen der Bauern von Taboquinhas dar, von denen hier sehr viel abhängt.

Die Menschen hier zu bemitleiden wäre ebenfalls falsch! Auch wenn das Leben hier sehr einfach ist, sind nur die wenigsten unglücklich.

Einige Europäer suchen diesen Spirit von Bahia und beginnen hier ein neues Leben, fern von den Zwängen der großen Städte. Die Einheimischen schätzen die Zuwanderer sehr und nehmen jede Hilfe im Anspruch. Viele der Neulinge sehen die Probleme mit anderen Augen und können anhand ihrer Erfahrungen aus Europa, die Abläufe des Alltags verbessern.

Die Bildungsrate in vielen Gebieten Brasiliens und speziell Bahias, ist auch heute noch erschreckend niedrig. Analphabetismus ist verbreitet und Bildungslücken fallen immer wieder auf. Selbst praktizierende Lehrer beherrschen oftmals ihr Fach nicht ausreichend, um das nötige Wissen zu vermitteln. Das Beispiel einer Englischlehrerin verdeutlicht das. Sie unterrichtet Kinder und Jugendliche und regelmäßig auch Erwachsene, ist aber selbst nicht in der Lage eine englische Konversation zu führen.

So sind die Bildungsmöglichkeiten, die weitreichende Chancen bedeuten könnten, von vornherein eingeschränkt. Eine Herausforderung für Zukunft das zu ändern.

Doch auch wenn die Leute hier mit unzähligen Schwierigkeiten zu kämpfen haben und neue Probleme schon in der Zukunft bereitstehen, ist der eigentliche Reichtum der Menschen aus Frohmut und Gelassenheit gemacht. Ein Gut, viel wertvoller, als jeder brasilianische Real je sein könnte!

 

Von Levin (20), seit 8. Januar 2018 in Brasilien unterwegs.

Brazil. Rio de Janeiro. Visconde de Maua.

Fern der massenbevölkerten Häuserschluchten von Rio de Janeiro und Sao Paulo, liegt in mitten der Serra Negra das kleine Dorf Visconde de Maua oder einfach Maua.

Im stetigen Wechsel von Regen und Sonne, wird hier ein ganz anderer Rhythmus gefahren, als ihn die meisten „modernen“ Menschen kennen.

Zwischen den postkartenreifen Tälern und Wäldern, angrenzend an den über 80-jährigen und damit ältesten Nationalpark Brasiliens, leben die Einheimischen in Frieden und Entspannung ein einfaches aber gutes Leben.

Auch wenn die Serra im Sommer oft tagelang in dichte Vorhänge aus Wolken gehüllt ist, so dass man das Auto des Nachbarn kaum vom Dunst unterscheiden kann, arbeiten die Leute hier rege, hart, doch nur selten abnutzend und gestresst.

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Ein Großteil der Einheimischen arbeitet für sich und so auch meistens für die Nachbarn und die anderen Bewohner der Gegend. All die unterschiedlichen Fähigkeiten eines jeden, werden überall gebraucht: Ob der, auf dem Bau talentierte, Nachbar mal wieder den, irgendwie gefährlich wirkenden, Kabelsalat vor der Haustür fachmännisch ordnen soll, oder ein anderer sich mal eine halbe Stunde unter den schon wieder verdächtig stotternden VW Käfer legt, untereinander wird sich geholfen, ganz ohne Rechnung und Finanzamt, wäre doch auch langwierig und unnötig kompliziert.

Und kann der Eine das Tagwerk des Anderen, aufgrund akuter Finanznot, mal nicht mit barer Münze entlohnen, tun das auch ein paar neuwertige Plastiktonnen, eine importierte Taschenlampe oder einfach ein paar Wochen Wartezeit, bis der passende Betrag zusammengetragen ist.

Niemand hat hier besonders viel, aber das Fehlende vermissen nur wenige, es gibt wichtigeres zu tun. Die Touristen werden das Geld herbringen, ob morgen oder in unbestimmter Zukunft ist eher zweitrangig. Im Paradies lebt man ja schon, da kriegt man den Tag auch ohne Medienbeschallung und dickem Konto rum.

Fährt man bis zum Ende des Tals und biegt, kurz vor den üppigen Wasserfällen, in eine staubige, rote Piste ein, gelangt man irgendwann in die Nachbarschaft von Paolo. Auch hier kreist an sonnigen Tagen der Rabengeier „Urubu“ und die vielen Kolibris klappern knatternd an der ungeheuren Blütenpracht entlang.

Paolo, der studierte Tourismusexperte, baut auf seinem Land nach und nach Hütten, die er dann an Besucher vermietet. Auch bei ihm ticken die Uhren anders, kein Druck von Oben, er ist sein eigener Chef.

Genau der Grund, warum er sich GEGEN ein klassisches Arbeitsleben in der Stadt entschieden hat und FÜR eine Art Austeigerleben in den Bergen der Serra Negra. Wasser kommt aus dem Fluss und der Strom, wenn es gut läuft und nicht der Blitz mal wieder die Energieversorgung für ein paar Tage lahmgelegt hat, aus der Dose.

Sein Land hat Paolo vor 15 Jahren als festgetretenen Weidegrund erworben. Davon ist heute nichts mehr zu erahnen. Über knapp 1500 Quadratmeter erstreckt sich ein dichter Wald von höchster Vielfalt: Mangos, Ananas, Zitronen, Bananen, Avocados und diverse Kräuter, hier ist fast alles zu finden – Paradies eben.

Das Wachstum der Pflanzen ist hier also eher zu bekämpfen als zu fördern. Überall auf dem Gelände gibt es Baustellen, herumliegende Bretter, Baustofflagerplätze oder einfach ein, noch nicht fertiges, Projekt. Ein organisierter Bürger Deutschlands würde diesen Stil vielleicht als „Messitum“ bezeichnen und vieles als Müll, aber wozu, es geht doch voran.

Die Erklärung von Paolo zu der Sachlage hier, wäre eher so: Es ist eine weitreichend genutzte Recyclingkultur, als nachhaltige Alternative zur wachsenden Wegwerfgesellschaft in anderen Teilen der Welt. Mit dem Konsumwahn der stetig wachsenden und immer globaler auftretenden Gesellschaft, ist Paolo gar nicht einverstanden.

So wird hier nur vegetarisch gegessen und das Essen kommt aus den umliegenden Dörfern der Region. Auch die Energie wird möglichst Lokal generiert und verbraucht. Die Natur und das Land sind hier die höchsten Güter und das versucht Paolo in seinem permakulturellen Leben immer zu berücksichtigen.

In Maua, zwischen den grünen Bergketten und rauschenden Bächen, kann man das Glück auch ohne viel Vermögen finden. Eine Katastrophe könnte die Erde heimsuchen, während hier die Sonne in den Abendstunden den Nebel der Berge in ein helles Licht taucht. Und man wäre sich sicher, dass der nächste Tag genauso friedlich und still zu Ende geht wie dieser.

Wäre da nicht das ständige „Gib Laut“ der Hundemeute.

 

Seit meinem letzten Blog-Eintrag aus China, bin ich noch einiges schuldig geblieben. So hat der aufmerksame Leser sicherlich gemerkt, dass die Tour in Shanghai noch nicht zuende war. Richtig, dort waren wir am Ursprung des China-Abenteuers von THE IGNITION angekommen: „Papas Bierstube“ von Iris und Yang, das Wirtshaus, in dem 2011 alles begann. Außerdem haben wir in Shanghai von den Zipfelklatschern gehört, dem Sündenpfuhl Zapatas, Mückes Tattoo und dem Yuyintang Livehouse.

Nach alledem gings noch drei Tage weiter: Zunächst Xuzhou, eine Stadt, die von uns den Namen „Loch“ bekam, weil sie wie ein Dorf wirkte. Dass auch dieses „Loch“ fast neun Millionen Einwohner hat, brauche ich glaube ich nicht mehr zu erwähnen. Trotzdem wirken diese Riesenstädte manchmal wie Dörfer, weil abends einfach nichts geht… Die Bürgersteige sind hochgeklappt und es hat vielleicht EINE Kneipe geöffnet – Spielhallen oder Karaoke-Kabinen ausgenommen, aber damit kenne ich mich nicht aus.

Das Konzert in Xuzhou war echte Pionierarbeit. Der Schuppen hatte zwar, wie immer in China, teures Live-Equipment, sah aber ansonsten aus wie ein Blumenladen aus den 70ern. Die Knaben und Mädchen vor der Bühne machten, wie immer, alles mit, diesmal sprach aber wirklich nur eine einzige Person ein paar Brocken Englisch und so musste Tim immer wieder warten, bis seine Ansagen ins Chinesische übersetzt waren. Danach liefs aber auch hier wie immer: „Klatscht in die Hände“ – Händeklatschen, „Springt auf und ab“ – Aufundabspringen, „Singt den Refrain mit“ – Refrainmitsingen… Und nachdem der letzte Ton verhallt war, waren alle Gäste in zwei Minuten weg. „Vielleicht hat der Hamster noch Geburtstag“, fiel Norbert als mögliche Erklärung ein.

Dann kam der „13 Club“ in Tianjin an die Reihe: In dieser weiteren Millionenstadt war wieder mehr los. Vielleicht lags daran, dass hier alles für den chinesischen Touristen hergerichtet war. Es gab die „Spanish Street“, das bayerische Wirtshaus und Venedig in Miniaturform. Außerdem, wieder einmal, eine riesige Kathedrale aus Plastik. Alles frei nach dem Motto: „Warum ins Ausland reisen, wenn wir uns das Ausland selber machen können?“

"Kathedrale" von Tianjin
Die „Kathedrale“ von Tianjin

Am 8. Oktober 2017 fuhren wir mit 300 km/h in Peking ein, dem chinesischen Zuggeschoss sei Dank. Zehn Tage zuvor waren wir genau hier angekommen, aber jetzt schien alles anders. Ein Leben lag gefühlt zwischen Ankunft in China und dem Hier und Jetzt. In all der Überforderung des Moments, war es eine weise Entscheidung raus zu fahren aufs Land, genauer gesagt, zur Chinesischen Mauer. Mit einem wackeligen Skilift, der Norbert die Schweißperlen auf die Stirn trieb, gings rauf in Wolken verhangene Berge und ich merkte plötzlich, dass es auf einmal still wurde. Nur ein leichtes Vogelzwitschern war zu hören, als wir am Ende der, für Touristen sanierten, Mauer standen und auf die historischen Ruinen der übrigen zigtausend Kilometer Mauer blickten. In der Ferne nur drei schwankende Gestalten, mit einer Pulle Sangria, die das alte Gemäuer erkundeten – Ukrainer im Urlaub, wie sich später herausstellte. Warum ich die Stille erwähne? Ganz einfach, in den zehn Tagen war es der erste Moment ohne Motorenlärm, Menschengeschrei, Klimaanlagen oder Hardrock. Für eine naturverbundene Person, wie mich, durchaus erwähnenswert.

Mauer

Zurück in Peking enterten wir die legendäre Tempelbar. Ein Ranking über der Theke gab an, dass ein, sicher bekloppter, Ami hier 20 Jägermeister in 25 Sekunden gekippt hat. Genau der richtige Ort für das letzte Konzert der Chinatour 2017 von THE IGNITION. Ein Hotel war nicht gebucht, um vier Uhr morgens gings also knallvoll und hundemüde direkt zum Flughafen. Zum Glück war der Airbus A380, in Fachkreisen auch „Flattermann“ genannt, nur halb voll. Wir konnten uns also langmachen und pennen, während wir über dem Himalaya ordentlich durchgeschüttelt wurden.

Ende
Nach 10 Tagen Rock’N’Roll

Jetzt ist es Februar 2018 und wir haben das Erlebte weitestgehend verarbeitet. So viel sei jetzt feierlich verraten: Es wird bald eine Filmpremiere im Kino geben von einer neuen DOWNSIDEUP-Doku, diesmal aus China. ROCK CHINA ROLL. In den nächsten zwei Wochen gibt’s mehr dazu!

P.s.: Und wer nach der Lektüre meiner Texte noch Lust auf Rock’N’Roll in China hat, dem sei dieses Radiofeature über die Tour ans Herz gelegt:

WDR 5, Neugier genügt am 30. Januar 2018

Von Levin Meis, seit 8. Januar 2018 in Brasilien unterwegs.

Brasilien, das größte Land Südamerikas. Riesig, bunt, positiv und negativ.

Sollte man einen, aus vielen Staaten bestehenden, Kontinent wie Europa mit nur einem Land vergleichen, würde man meinen: Brasilien ist fast genauso groß und die kulturelle Vielfalt fast genauso vielfältig. Trotzdem aber, ist alles anders…

Hier quatscht man einfach so mit Leuten, denen man nie begegnet ist und die man wohl auch kein zweites Mal treffen wird. Aber man redet miteinander.

Brasilianer halten zusammen, das Land hat eine Art gemeinsamen Nenner.

Fragt man etwa einen Brasilianer, was denn das Beste an seinem Land wäre, geht die Unterhaltung oft so:

“The best of Brazil…? The best of Brazil are the Brazilians!”

Man findet die eigene Eigenart gut, ist aber trotzdem freier von Vorurteilen, als mancher Europäer.

Was nach meinen bisherigen Erfahrungen – ich bin jetzt zwei Wochen hier – zumindest in die „Top Five“ der „Best things of Brazil“ gehört, ist der oft unerwartete aber erstklassige Service!

Hier werden einem so einige Mühen erspart.

Beim Einkauf im Supermarkt etwa, wurde mir tatkräftige Hilfe angeboten: Beim „lästigen“ einpacken meiner Einkäufe, kam unerwartet ein Mitarbeiter und übernahm den Einpack-Vorgang für mich. Mir – dem deutschen Gringo – war das natürlich unangenehm, aber bevor ich Einspruch erheben konnte, war die Ware schon akkurat in diverse Plastiktüten platziert. Blieb also nur ein kurzes „Obrigado“ und das abgreifen der Tüte, damit der nächste Kunde bedient werden kann. Vielleicht war ich dem Personal auch einfach nur zu langsam, aber ich habe das einfach mal als selbstverständliche Hilfestellung verstanden.

Beim Besuch eines italienischen Restaurants gabs, neben Pizza, ebenfalls ausgezeichneten Service. Am Rande sei vielleicht gesagt, dass die Restaurant-Szene und das angebotene Essen in Sao Paulo weltweiten Ruhm genießt. Nicht wenige behaupten, dass das Sushi hier, das Sushi des fernöstlichen Urhebers deutlich übertrifft.

Auch beim Italiener wurde die vorzügliche Pizza nur vom Engagement eines, äußerst eleganten, Garçon übertroffen. Kam also die Bestellung zum Tisch, zeigte ich bloß auf das Stück das mir am meisten zusagte, damit der Kellner es sanft auf meinen Teller legt. Nach dem ersten Happen, ging es um den nächsten Teil des Wagenrads.

Also erneut den schicken Kellner herangewunken, der wiederum den Teller vorhält, damit die Entscheidung für den nächsten Teil der Mahlzeit fallen kann. Eine sehr bequeme Art sich zu ernähren.

An einem anderen Abend steuerte mein brasilianischer Amigo Guilherme seinen weißen Honda Civic in Richtung einer besonders angesagten Bäckerei.

Bei dieser Bäckerei, mit zugehörigem „International-Supermarket“, gibts den berühmten „Service do Brasil“ schon, bevor man den Laden überhaupt betreten hat.

Natürlich mussten wir vorher den Civic irgendwo parken. Aber nicht nach deutscher Manier 20 Minuten suchen und dann 20 Minuten zum Ziel laufen, nein, das läuft hier anders:

Gui stellte den Wagen einfach in eine Einfahrt und stieg aus. Ich sah ihn an und fragte, ob er wirklich in dieser Einfahrt parken will, die kurz vorher noch lebhaft benutzt wurde. Die Antwort: nur ein lachendes Kopfschütteln.

Natürlich wurde die Karre vom Personal in einen Parkplatz bugsiert, damit der Kunde, nach Essen oder Einkauf, bequem und ohne Aufpreis wieder abdüsen kann.

So einen Premiumservice kannte ich bisher nur aus Filmen, etwa von den schicken Herbergen in die 007 während seiner Eskapaden gerne eincheckte.

Hinterfragt man diese Zusatzleistungen, was ich gerne mal tue, gelangt man schnell zu den sozialen Schieflagen in Brasilien. Die paar Beispiele, die ich aufgeführt habe, stehen sicher nur exemplarisch für eine Vielzahl andere, aus anderen Lebensbereichen.

Außer vielleicht dem fürsorglichen Kellner, sind die restlichen Helferlein Exempel für das Schaffen von Jobs, die nur gemacht werden, weil es für die Menschen keine Alternativen gibt. In einer wohlstands-geschwängerten Gesellschaft wie Deutschland, findet man für solche Aufgaben keine Leute. Knochenarbeit machen nur noch Ausländer, der Rest holt sich einen Krankenschein oder Hartz IV. In Brasilien ist das anders.

Das Land ist nach wie vor in einer wirtschaftlichen Entwicklungsphase, viele Leute stehen ohne Arbeit und geregeltes Einkommen da.

Aber, auch wenn Servicekräfte keinen großen Lohn bekommen, haben sie doch ein paar Reals in der Tasche und etwas zu tun. So helfen sie den „Glücklicheren“ bei ihren alltäglichen Lasten – oder Lästchen. Die einen sparen Zeit und Nerven, die anderen haben eine Chance auf Verdienst. Kann man sehen wie man will und die Frage ist, ob es ohne „Service do Brasil“ besser wäre…