KILL ME

Angekommen in Zhengzhou, der dritten Stadt auf der Tour, stehe ich vor einem Strommasten und beobachte eine kleine Gruppe Spatzen, die in einem gigantischen Salat aus Kabeln und Drähten umherflattern. Von dem Knäuel verteilen sich die Kabel in die umliegenden Plattenbauten und Fressbuden. Irgendwie beruhigt dieses geordnete Chaos und hilft das Durcheinander im eigenen Kopf zu entwirren. Bei dem rasanten Tempo mit dem wir durch das Riesenreich rasen, bleibt der Geist manchmal auf der Strecke.

Solch eine Kabelkonstruktion, wie an der Straßenecke in Zhengzhou, hätte der TÜV Rheinland wohl nicht abgenommen. Es scheint aber zu funktionieren. Immer wieder staune ich über die kleinen Nischen, in denen die Dinge noch alt und provisorisch wirken. Im Kontrast dazu: eine durchtechnisierte Gesellschaft, Bauboom und Gigantismus.

Am Abend steigt das Konzert im 7 LIVEHOUSE, einem hochmodernen Club mit einem kompletten Liveset auf der Bühne und Technik für mehrere zehntausend Euro.

Anders als am Vorabend in Xinxiang, sind heute einige Gäste da, die richtig gut Englisch sprechen. Ich interviewe ein Mädel (Anfang 20) an der Theke und versuche herauszubekommen was die jungen Leute in China so bewegt. Bisher wirkten sie alle sehr schüchtern, verschlossen und folgsam auf uns. „Was unterscheidet euch eigentlich von euren Eltern?“ frage ich, in Erwartung einer kurzen, schüchternen, wohlüberlegten Antwort. Aber dann überrascht mich meine Interview-Partnerin. Voller Emotion schildert sie mir, wie traditionell viele Familien in China leben, wie sie ihre Kinder von Neuem fernhalten wollen, dass Sex, Partys und Abenteuer meist völlig tabu sind. Sie schließt mit den Worten „Die jungen Leute werden China verändern“.

biergitarre

Später beim Konzert sehe ich sie direkt vor der Bühne. THE IGNITION dröhnt aus den Boxen und sie tanzt, schüttelt die Haare, springt wie in Trance bis der letzte Ton verhallt ist. Wie die meisten Gäste tut sie das stocknüchtern und wenige Minuten nach Schluss muss sie nach Hause.

Im Schnellzug nach Wuhan am nächsten Tag, denke ich lange nach über die chinesische Gesellschaft. Mir scheint, dass sie ihr Streben nach freier Meinungsäußerung und Privatsphäre, der rasanten Entwicklung des Wohlstands untergeordnet haben. Bereitwillig lassen sie sich überwachen und durchleuchten, egal ob im öffentlichen Raum oder übers Netz. Sie funktionieren einfach und ordnen ihren eigenen Individualismus dem Fortschritt der Nation unter.

trainfixit

In Wuhan nutze ich mit Tim und Pidde einige freie Stunden, um in die Innenstadt zu gehen. Mit der Kamera versuche ich einzufangen, wie sehr ein Europäer in chinesischen Millionenmetropolen auffällt. In einer vollgestopften Einkaufsstraße verfolge ich mit dem Sucher den blonden Schopf von Tim, der aus tausenden schwarzen Punkten herausragt.

Pidde und Tim wollen mir ein weiteres Beispiel für den Gigantismus in China liefern und zeigen mir eine Shoppingmall, wie ich sie noch nie gesehen habe. Unzählige Etagen, Shops, Boutiquen, Promo-Stände, Events, Verlosungen… Mir wird schwindelig. Aus der Mall raus, schieben wir über die „Spanish Street“, biegen von dort in die „German Street“ und stehen auf einmal vor einer gigantischen Kathedrale in gotischem Baustil. Wahnsinn – wie kommt die denn hier hin? Bauingenieur Tim traut dem Braten nicht, tritt an die Mauer und mach den Klopftest. Ein hohles Geräusch erklingt. Stein ist das nicht, so sein Fazit, eher Plastik mit Acryl verfugt. Ein Neubau also, aus Beton, mit Kunststoff verkleidet und auf alt getrimmt. Warum? Weil man‘s kann.

Als wir in das „Gotteshaus“ eintreten, wird die Verblüffung aber nochmal getoppt. Da sitzen Menschen in Betbänken, mampfen Burger, schlürfen Milchshakes und spielen an ihren Smartphones rum. Vor ihnen ein riesiger Bildschirm, auf dem Werbung läuft, und in den Seitenschiffen des ehrwürdigen Bauwerks Fastfood-Ketten.

band

Mit all den Eindrücken beladen geht’s zurück zum Hotel und dann ins VOX LIVEHOUSE von Wuhan, den bisher spektakulärsten Club. Heute wird’s richtig voll und die Band ist entsprechend euphorisch. Nach dem ersten Lied sitzen aber – wie immer – fast alle Gäste noch im hinteren Bereich des Ladens und daddeln am Smartphone rum. Kein Problem für die erfahrenen Chinarocker aus Ahlen-Tönnishäuschen: „Please come in front of the stage“, lautet die Ansage von Bandleader Tim und nach einigem Gemurmel und Übersetzungen kommen alle vor die Bühne und so nimmt das Konzert seinen Lauf: „Clap Your hands“ – händeklatschen; „Jump up and down“ – auf und niederhüpfen; „Sit down on the floor“ – hinsetzen. Jedes Kommando der Band wird perfekt umgesetzt und am Ende sehe ich eine wilde, springende und kreischende Meute vor der Bühne. Und dann wird’s sogar etwas politisch. Tim kündigt an eine Botschaft an fu***ng Donald Trump und den Typen neben Südkorea senden zu wollen und alle sollen den Refrain mitsingen: „Kill Me, Kill Me – Shoot Me To Hell“ schallt es aus dutzenden Kehlen und alle haben sichtlich Spaß daran.

Ein kleiner Funke – eine Provokation – ist Übergesprungen von der Zündanlage aus Tönnishäuschen ins stille Riesenreich.