Um die Mittagszeit finden wir uns im Biergarten einer zünftigen bayerischen Schenke wieder. Der Kopf brummt noch gewaltig von der Nacht in Nanjing – irgendwie hatten wir dort doch noch Alkohol aufgetrieben, nachdem das nüchterne Forrest Festival zu Ende war. Ich komme ins Grübeln, während die Bedienung sechs Maßkrüge Weißbier auf den Tisch donnert. Ins Grübeln deshalb, weil wir schon wieder in einer neuen Stadt sind. Irgendwie mussten wir es geschafft haben, trotz durchfeierter Nacht, von Nanjing nach Shanghai zu fahren, denn dort sind wir jetzt – eindeutig.

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Ordnung muss sein!

Die Stimmung ist gelöst, ja sogar euphorisch, denn die Band ist am Ursprung ihrer China-Karriere angekommen. In „Papas Bierstube“ durften sie vor über fünf Jahren ihr erstes Konzert spielen. Damals war das ein Experiment, das erstaunlich gut funktionierte. In der vollgepackten Bierstube kam Hardrock damals richtig gut an, erinnert sich die Wirtin Iris. Sie ist zu einer guten Freundin geworden, der immer ein Besuch abgestattet wird, wenn die Band in Shanghai Station macht.

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Iris lacht laut und viel und verbringt den Nachmittag mit uns bei „Kutscherschnitzel“ und selbstgebrautem Weißbier. Sie selbst trinkt nichts. So muss sie das handhaben, denn sonst würde sie hier zum Alkoholismus genötigt, sagt sie. Nicht nur von der Band, sondern den anderen Gästen auch. Eine Wirtin, die mit einem Kunden trinkt, muss mit allen trinken und das endet niemals gut. Deshalb hat Iris, die vor vielen Jahren aus Deutschland nach Shanghai auswanderte, sich klare Regeln auferlegt.

Ihr Mann heißt Yang und sitzt auch mit am Tisch. Er trägt einen blauen Maßanzug, hellgelbes Hemd, eine stylische gelbe Brille und er raucht Zigarre – geiler Typ. Ihm zu Ehren stimmen wir nacheinander „Yang Man“ (Village People) und „Forever Yang“ (Aplhaville) an. Der Gute fühlt sich sichtlich geehrt.

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Iris und Yang

Auch wenn das wirklich originelle „Kutscherschnitzel“ noch nicht ganz in den verkaterten Körper will, plätschert das Weizen schon wieder gewaltig die Kehle runter und die Stimmung wird immer ausgelassener.

Wir bedauern es sehr das jährliche Bierfestival in Papas Bierstube verpasst zu haben. Es war schon Anfang September mit den legendären Auftritten der Aschaffenburger Zipfelklatscher. Mit ihrer bayerischen Volksmusik klatscht jeder Zipfel munter durch die Nacht, sind wir uns sicher.

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Man beachte die Sponsoren

Aber genug der bayerischen Hochkultur, wir sind schließlich im Reich der Mitte. Unsere eigene Mitte müssen wir nach dem Besuch bei Iris und Yang erstmal wiederfinden, denn leicht orientierungslos sind wir schon nach 6 Litern Weißbier pro Kopf.

Also ein wildes Umarmen zum Abschied und dann ab in die City zu einer japanischen Showküche. In dem Restaurant finden wir uns um eine heiße Metallplatte versammelt wieder, mit einem Menü in der Hand, das wir (mal wieder) nicht durchschauen. Weder Personal, noch Koch verstehen Englisch, also wird, wieder einmal, mit Übersetzer-Apps gearbeitet und irgendwie bestellt. Das einzige was sicher ist, ist die Bier-Bestellung: Mit abgespreiztem Daumen und kleinem Finger – wie der Surfergruß – signalisert man dem Chinesen die Zahl 6 und sagt dazu „píjiǔ“. Prompt bringt der Kellner sechs eisgekühlte Tsingtao.

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Natürlich kann Bandleader Tim es nicht lassen unseren Showkoch, der an der heißen Platte seinen Posten bezogen hat, zum Bierkonsum zu überreden. Nach anfänglichen Versuchen dankend abzulehnen, gibt er sich geschlagen und zieht dann genüsslich beim Kochen die Bierchen weg. Wenn er dabei nicht mit scharfen Messern jongliert hätte, hätte ich mich wohl entspannt, so aber verfolge ich jede seiner Bewegungen aufmerksam. Plötzlich reicht der Manager wieder seine Übersetzer-App rein: „Prepare Your Cameras, the cook will dance for You“, steht da. Wir glauben zunächst, dass da irgendwas „lost in translation“ ist, aber dann setzt der Mann sich tatsächlich eine dunkle Brille auf, ein schneller Elektro-Beat setzt ein und der Koch führt eine Art „Gangnam-Style“ auf. Die Zipfelklatscher wären stolz auf ihn.

Das Essen war lecker, wie immer zu viel und der angetrunkene Koch hat uns nicht mit seinen Messern erdolcht. Mit dieser Feststellung wollen wir zum „Yuyintang Livehouse“ aufbrechen und ein beschwipstes Konzert spielen, als uns einfällt, dass heute ja der einzige Konzert-freie Tag der Tour ist. Erleichterung macht sich breit und wir nehmen uns stattdessen ein Taxi ins Zapatas, Shanghais legendärem Nachtclub.

Über dem Eingangsschild steht bereits geschrieben „What happens in Zapatas, stays in Zapatas“ und daran will ich mich auch hier halten. Nur so viel: Auch wir hätten die Zipfelklatscher schwer beeindruckt.

Am nächsten Tag gabs wieder einen Auftritt von THE IGNITION, alles andere habe ich vergessen… Ach ja: Roadie Mücke hat sich irgendwo in Shanghai tätowieren lassen. Aber das wars dann glaub ich.

„Oans, zwoa, g’suffa!

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Yuyintang Livehouse
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Mücke unter der Nadel

Angekommen in Nanjing, der südlichen Hauptstadt Chinas.

Bis zur Gründung der Volksrepublik durch die Kommunisten im Jahr 1949 war Nanjing immer wieder alleinige Hauptstadt. Seitdem aber, hat die nördliche Hauptstadt Beijing (Peking) das Rennen für sich entschieden und Nanjing zur Provinzhauptstadt von Jiangsu degradiert.

Doch für die Band bietet Nanjing immer noch einen Empfang, der einer Hauptstadt würdig ist. Am Bahnhof erwartet uns Ting, eine wuselige 22-jährige, die sich um die deutschen Hardrocker kümmern soll. Draußen warten zwei große SUV’s mit getönten Scheiben, die die Band zum Hotel bringen sollen. Im Stadtverkehr merken wir sofort dass hier ein anderer Wind weht, als noch in Xinxiang, Zhengzhou oder Wuhan. Die Straßen sind breit und sauber, alles wirkt moderner und – außer Assistentin Ting – nicht mehr ganz so wuselig.

Die Band ist sichtlich zufrieden mit der Organisation in Nanjing und als wir uns dem Hotel nähern, müssen sie aufpassen nicht gänzlich in Schockstarre zu verfallen. Echten Rock-Superstars würdig, halten die dunklen SUV’s vor einem riesigen Wolkenkratzer, der so aussieht, als wäre er gestern fertiggestellt worden. Tim, Nobby, Pidde, Michi und Mücke nicken grinsend mit den Köpfen – alles standesgemäß.

Nachdem wir die Zimmer bezogen haben – hoch über Nanjing, mit Badewanne am Panoramafenster – treffen wir uns unten in der Lobby. Überrascht schaue ich in lange Gesichter. Die Euphorie der Band über die kaiserliche Unterbringung scheint verflogen.

„Was ist los?“ frage ich Pidde, den Schlagzeuger: „Es gibt kein Bier“ lautet die knappe Antwort. Ting, das wuselige Helferlein, hat den Jungs eine Liste für ihre Backstage-Verpflegung vorgelegt und ist jetzt in Erklärungsnot. Zur Auswahl stehen dort Wasser, 7 Up, Instant-Coffee und Kokosmilch. Für den kleinen Hunger noch Schokoriegel und Erdnüsse. Rock’N’Roll ohne Drugs, das kommt nicht gut an bei den Deutschen.

Wir steigen wieder in die dunklen SUV’s, die uns zum „Forrest Festival“-Gelände bringen sollen. Auf dem Weg sehen wir riesige Gebäude links und rechts, nagelneue Highways, aber keinen einzigen Laden, um die Biervorräte aufzustocken. Dafür halten wir irgendwann an zwei riesigen Bühnen mit Live-Bildschirmen und gigantischer Lichtshow. Davor kreischen tausende Chinesen in Regencapes, denn es saut seit Stunden vom Himmel.

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Jetzt wird’s richtig wuselig: Kaum aus den Autos ausgestiegen, schwärmen aus allen Richtungen Volontäre auf uns zu, die Bandequipment tragen und Schirme halten. Vor allem die Schirmhalter nerven schnell, denn sie folgen uns auf Schritt und Tritt. Angekommen im Backstage-Zelt mit Aufschrift THE IGNITION, werden die Nerven nochmal arg auf die Probe gestellt. Ting legt ein Vertragswerk in chinesischen Schriftzeichen vor, mit der Erklärung, dass die Band vor dem Konzert kein Bier trinken darf und nur die sechs Songs vom aktuellen Album erlaubt sind. Außerdem dürfen keine anzüglichen, pornografischen oder politischen Botschaften übers Mikro kundgetan werden. Bandleader Tim fällt ganz tief in seinen Sessel, während draußen auf der Bühne ein Püppchen seichte Schlagerlieder trällert.

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Letztendlich fängt die Band sich wieder, rappelt sich auf, schüttelt die Schirmträger ab und stromert übers Festivalgelände. Und da lichten sich die Mienen schnell wieder, denn dass Rockstar-Feeling ist zurück. Wo sie auch auftauchen wollen die Leute Selfies und Autogramme. Bassist Michi fasst zusammen: „Die kennen uns nicht, wissen aber, dass wir gleich auftreten und sind jetzt schon begeistert von uns – unglaublich!“

Alkohol gibt es auf dem riesigen Gelände nicht, nur Zuckerzeug und Fressbuden.

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Dann ist es soweit: Um 18:30 Uhr, also nach Sonnenuntergang, nimmt THE IGNITION die riesige Bühne in Besitz. Während auf der zweiten Bühne noch ein seichtes Popkonzert läuft, machen die Jungs aus Tönnishäuschen Soundcheck. Abermals frage ich mich: „Wie soll das gehen? Wie soll eine Hardrock-Band dieses Pfadfinderlager in Wallung bringen und die jungen Chinesen von Schlager und Pop auf Hardrock trimmen?“ Langsam wird’s voll vor der Bühne. Wir blicken mittlerweile auf ein Meer aus Regenponchos, Schirmen und bunten Knicklichtern – etwa 15.000 Leute.

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Die ersten Riffs ballern über die vielen Köpfe hinweg und siehe da, Gekreische und Jubelschreie setzen ein. In Sturm und Regen geht das Konzert richtig ab, frieren muss hier sichtlich keiner mehr. Direkt vor der Bühne bildet sich ein riesiger „Moshpit“, den die vielen Polizisten aufmerksam beäugen. Das geschubse und rumgehüpfe können sie, glaube ich, nicht ganz einordnen: „Ist das gefährlich?“, „Wird hier demonstriert?“ oder „Wiegelt die Band die lieben Mädchen und Buben auf?“

Aus den erlaubten sechs Liedern macht THE IGNITION, sehr geschickt, mindestens zehn, indem sie einige Songs so aneinanderreihen, dass sie wie ein Lied klingen. Die Sittenwächter vor der Bühne merken nichts. Nach 45 Minuten ist die Show abgefackelt und die Masse tobt.

Gute Gelegenheit für die stocknüchterne Band sich ihren Rausch im Publikum zu holen. Ein Bad in der Menge, Selfies und Autogramme, können auch so einige Endorphine freisetzen.

Geht doch!

Angekommen in Zhengzhou, der dritten Stadt auf der Tour, stehe ich vor einem Strommasten und beobachte eine kleine Gruppe Spatzen, die in einem gigantischen Salat aus Kabeln und Drähten umherflattern. Von dem Knäuel verteilen sich die Kabel in die umliegenden Plattenbauten und Fressbuden. Irgendwie beruhigt dieses geordnete Chaos und hilft das Durcheinander im eigenen Kopf zu entwirren. Bei dem rasanten Tempo mit dem wir durch das Riesenreich rasen, bleibt der Geist manchmal auf der Strecke.

Solch eine Kabelkonstruktion, wie an der Straßenecke in Zhengzhou, hätte der TÜV Rheinland wohl nicht abgenommen. Es scheint aber zu funktionieren. Immer wieder staune ich über die kleinen Nischen, in denen die Dinge noch alt und provisorisch wirken. Im Kontrast dazu: eine durchtechnisierte Gesellschaft, Bauboom und Gigantismus.

Am Abend steigt das Konzert im 7 LIVEHOUSE, einem hochmodernen Club mit einem kompletten Liveset auf der Bühne und Technik für mehrere zehntausend Euro.

Anders als am Vorabend in Xinxiang, sind heute einige Gäste da, die richtig gut Englisch sprechen. Ich interviewe ein Mädel (Anfang 20) an der Theke und versuche herauszubekommen was die jungen Leute in China so bewegt. Bisher wirkten sie alle sehr schüchtern, verschlossen und folgsam auf uns. „Was unterscheidet euch eigentlich von euren Eltern?“ frage ich, in Erwartung einer kurzen, schüchternen, wohlüberlegten Antwort. Aber dann überrascht mich meine Interview-Partnerin. Voller Emotion schildert sie mir, wie traditionell viele Familien in China leben, wie sie ihre Kinder von Neuem fernhalten wollen, dass Sex, Partys und Abenteuer meist völlig tabu sind. Sie schließt mit den Worten „Die jungen Leute werden China verändern“.

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Später beim Konzert sehe ich sie direkt vor der Bühne. THE IGNITION dröhnt aus den Boxen und sie tanzt, schüttelt die Haare, springt wie in Trance bis der letzte Ton verhallt ist. Wie die meisten Gäste tut sie das stocknüchtern und wenige Minuten nach Schluss muss sie nach Hause.

Im Schnellzug nach Wuhan am nächsten Tag, denke ich lange nach über die chinesische Gesellschaft. Mir scheint, dass sie ihr Streben nach freier Meinungsäußerung und Privatsphäre, der rasanten Entwicklung des Wohlstands untergeordnet haben. Bereitwillig lassen sie sich überwachen und durchleuchten, egal ob im öffentlichen Raum oder übers Netz. Sie funktionieren einfach und ordnen ihren eigenen Individualismus dem Fortschritt der Nation unter.

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In Wuhan nutze ich mit Tim und Pidde einige freie Stunden, um in die Innenstadt zu gehen. Mit der Kamera versuche ich einzufangen, wie sehr ein Europäer in chinesischen Millionenmetropolen auffällt. In einer vollgestopften Einkaufsstraße verfolge ich mit dem Sucher den blonden Schopf von Tim, der aus tausenden schwarzen Punkten herausragt.

Pidde und Tim wollen mir ein weiteres Beispiel für den Gigantismus in China liefern und zeigen mir eine Shoppingmall, wie ich sie noch nie gesehen habe. Unzählige Etagen, Shops, Boutiquen, Promo-Stände, Events, Verlosungen… Mir wird schwindelig. Aus der Mall raus, schieben wir über die „Spanish Street“, biegen von dort in die „German Street“ und stehen auf einmal vor einer gigantischen Kathedrale in gotischem Baustil. Wahnsinn – wie kommt die denn hier hin? Bauingenieur Tim traut dem Braten nicht, tritt an die Mauer und mach den Klopftest. Ein hohles Geräusch erklingt. Stein ist das nicht, so sein Fazit, eher Plastik mit Acryl verfugt. Ein Neubau also, aus Beton, mit Kunststoff verkleidet und auf alt getrimmt. Warum? Weil man‘s kann.

Als wir in das „Gotteshaus“ eintreten, wird die Verblüffung aber nochmal getoppt. Da sitzen Menschen in Betbänken, mampfen Burger, schlürfen Milchshakes und spielen an ihren Smartphones rum. Vor ihnen ein riesiger Bildschirm, auf dem Werbung läuft, und in den Seitenschiffen des ehrwürdigen Bauwerks Fastfood-Ketten.

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Mit all den Eindrücken beladen geht’s zurück zum Hotel und dann ins VOX LIVEHOUSE von Wuhan, den bisher spektakulärsten Club. Heute wird’s richtig voll und die Band ist entsprechend euphorisch. Nach dem ersten Lied sitzen aber – wie immer – fast alle Gäste noch im hinteren Bereich des Ladens und daddeln am Smartphone rum. Kein Problem für die erfahrenen Chinarocker aus Ahlen-Tönnishäuschen: „Please come in front of the stage“, lautet die Ansage von Bandleader Tim und nach einigem Gemurmel und Übersetzungen kommen alle vor die Bühne und so nimmt das Konzert seinen Lauf: „Clap Your hands“ – händeklatschen; „Jump up and down“ – auf und niederhüpfen; „Sit down on the floor“ – hinsetzen. Jedes Kommando der Band wird perfekt umgesetzt und am Ende sehe ich eine wilde, springende und kreischende Meute vor der Bühne. Und dann wird’s sogar etwas politisch. Tim kündigt an eine Botschaft an fu***ng Donald Trump und den Typen neben Südkorea senden zu wollen und alle sollen den Refrain mitsingen: „Kill Me, Kill Me – Shoot Me To Hell“ schallt es aus dutzenden Kehlen und alle haben sichtlich Spaß daran.

Ein kleiner Funke – eine Provokation – ist Übergesprungen von der Zündanlage aus Tönnishäuschen ins stille Riesenreich.

„Aufwachen, packen und ab!“, ist die Ansage von Tim in unserer „WeChat“-Gruppe, der chinesischen Version von WhatsApp. WLAN gibts an jeder Ecke und der Chinese kommuniziert mehr übers Smartphone, als im guten alten Gespräch. Aber westliche Sozialmedien sind tabu – so wills die Partei.

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Unser Fahrer wartet vor dem Hotel, schon leicht angefressen, weils bei uns länger dauert. Mücke fehlt… Er war in der Nacht zuvor übereuphorisch übers Ziel hinausgeschossen und hat seine 6 Wecker nicht gehört. Schlagzeuger Pidde hilft ihm auf die Socken.

Mit dem Zug solls heute weitergehen nach Xinxiang, einem Provinznest mit „nur“ 6 Mio Einwohnern. Unser Fahrer bringt uns zu einem gigantischen Gebäude – ein Flughafen? Nein, ein chinesischer Bahnhof. Einfach nur groß und jeder Koffer muss durch den Scanner.

Bis wir auf dem Gleis stehen sind unsere Tickets sicher 5 Mal den aufmerksamen Augen eines Kontrollettis ausgesetzt gewesen. Für viele Menschen muss es auch viele Aufgaben geben und so werden hier überall irgendwelche Posten aufgestellt. Am Zug – einer Bimmelbahn – ist schon eine lange Schlange. Grund 1: Ein weiteres Mal den Fahrschein vorzeigen. Grund 2: Seeeeehr viele Menschen wollen mit. Da unsere Reisegruppe 6 Koffer, 3 Gitarren, Bass, Trommel, Merchandise-Koffer und einige Rucksäcke dabei hat, ist die Tortur im Abteil perfekt.

Die wabernde Menge schiebt, drückt und schwitzt. Koffer werden mit Gewalt und Kreativität in die Ablagen gedrückt, aber: Es wird mit stoischer Ruhe ertragen, begleitet von schüchternem Lächeln.

7 Stunden Fahrt: Menschen hocken, stehen, kauern, sitzen, liegen und pennen in den absurdesten Lagen. Dann ist es irgendwann, irgendwie geschafft und die Band quält sich in Xinxiang aus der Bimmelbahn. Als zwischen Gleis und Ausgang wieder mehrfach die Fahrscheine gefordert werden, fühle ich eine gewisse leere im Hirnkasten, in dem ein buntes Fragezeichen hüpft. Aber zu viel Fragen gehört sich nicht im Reich der Mitte und so schweige ich und belausche die westfälische Mundart von Bandleader Tim, die sich den Kontrollettis widmet.

Recht schnell ist klar, dass Xinxiang nicht Peking ist. Hier sehen wir nicht einen einzigen Menschen ohne chinesische Gesichtszüge. Das Gewusel ist noch wuseliger und das Essen noch gruseliger. Von Hühnerfüßen über Oxenpenis und Augen, bieten die Straßenstände hier so einiges für den Fremdling ungewohntes.

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Hotel beziehen, Soundcheck, Auftritt, Speis und viel Trank. Das sind die festen Zutaten für jeden Tourtag. Heute spielt eine lokale Punkband den Support. Roger, ein alter Bekannter der IGNITION-Boys, und Sänger besagter Punk-Truppe, platzt in den Backstageraum und ein wildes Umarmen setzt ein. Mit einem Knall setzt der füllige Mann mit auffälligem Irokesenschnitt einen Plastikeimer auf den Tisch, der Inhalt: Fleischstücke mit Knochen, die so aussehen, als ob ein Schwein mit einer Axt in kleine Klumpen gehauen wurde. Schmeckt aber, denn Roger ist im wahren Leben Koch.

Ich versuche ihn zu interviewen, was nicht einfach ist, denn Roger und Band schreiben zwar englische Texte, sprechen aber nur eine kleine Wortauswahl. Die Instrumente haben sie sich selbst vor gerade einmal 8 Jahren beigebracht, als sie englische Punklieder hörten und geil fanden. Vielleicht ein gutes Beispiel chinesischer Jugend. Sie sind unglaublich gut darin Dinge zu kopieren, die sie aus der westlichen Kultur aufgeschnappt haben – das gilt übrigens für viele Lebensbereiche in China scheint mir: „No time to waste, just Copy & Paste.“

Vielleicht sollten wir Deutschen auch einfach mal was gutes nachmachen, statt immer unser eigenes Zeug zu entwickeln, was dann häufig nicht klappt (denk ich so zwischendurch).

Ganz perfekt ists aber auch nicht immer, gibt Roger mit breitem Grinsen zu: „What we write is not English, it’s Chinglish“ – wahrscheinlich ist auch das auf andere Bereiche übertragbar.

Egal: Rogers Band ist laut, macht wilde Moves und schüttelt die Gäste ordentlich durch, bevor Headliner THE IGNITION im „ARK LIVEHOUSE“ von
Xinxiang richtig am Kabel zieht (auch noch lange nachdem der letzte Akkord verklungen ist).

Rock ’n‘ Roll!

Am Düsseldorfer Flughafen ist die Band dann vereint. Roadie und Mädchen für alles „Mücke“ hüpfte in Oelde auf den RE 6, in Ahlen dann Sänger Tim und Gitarrist Norbert, in Hamm Schlagzeuger Pidde und in Essen schließlich Bassist Michi. Ich selbst, Kameramann und Greenhorn der Truppe, durfte diese Wiedervereinigung komplett miterleben.

Jetzt sitzen wir alle in schicken T-Shirts (auf dem Rücken 9 Konzerttermine in chinesischen Städten) im Terminal und stemmen das dritte Bier rein. Es ist 11 Uhr und das ganze nimmt Züge einer feucht-fröhlichen Kegelfahrt an. Die Rocker schreiben fröhlich Autogramme für eine feucht-fröhliche Damengruppe um die 50 und palavern wenig zitierfähige Zeilen.

Dann sitzen wir im Flieger, dann im Flughafen Dubai, dann wieder im Flieger und irgendwie sind immer Getränke griffbereit. Wenn das so weitergeht sind die Autogrammkarten schon unter die Völker gebracht bevor wir Peking erreichen.

In Peking wird die Band von Simone in Empfang genommen. Schnell eine chinesische Simkarte fürs Band-Handy besorgt und ab zum Hotel – Fahrt eine Stunde durch Verkehrsinfarkt.

Simone und der Fahrer amüsieren sich sichtlich, in reserviert chinesischer Art, über die harten Jungs aus Deutschland.

Einchecken, Soundcheck im „Dawn Till Dusk Club“ und dann mit Simone was essen. Durch enge Gassen, in denen an jeder Ecke irgendwas passiert, in denen Elektroroller dich ständig weghupen – schließlich sind wir im Hinterzimmer eines Restaurants und kapieren die Karte nicht. Letztlich einigen wir uns darauf, dass Simone mit ihrem Kumpel einfach irgendwas bestellt und wir das dann essen. Simone muss weiter, wir warten, während die Band lautstark deutsche Trinklieder schmettert. Die chinesische Großfamilie am Tisch nebenan ist begeistert (und das meine ich nicht ironisch).

Dann begräbt die Bedienung uns unter einem Berg von Essen, was zugegeben köstlich ist, aber ganz Tönnishäuschen sattgemacht hätte.

Zurück im „Dawn Till Dusk Club“, spielt bereits eine Experimental-Jazz-Kombo aus Norwegen. Wir haben schon sorgen, dass die die ca 50 Gäste vertreiben, bevor THE IGNITION um 23 Uhr zündet. Aber sie bleiben, nicken mit den Köpfen und starren auf Smartphones. Dann kommt ne russische Truppe dran: Musikstil Elektropop, der Sänger eine Kreuzung aus Dieter Bohlen, Mick Jagger und Captain Jack Sparrow. Aber der Mann kocht die Bude auf! Jubelschreie und Dancemoves und etwas weniger Smartphones. Und dann ist es endlich soweit. Tim, Nobby, Michi und Pidde nehmen die Bühne in Besitz und gehen von E-Pop auf Hardrock. Auch das klappt. Die Leute bleiben und die Show geht mächtig nach vorne. Dass Sänger Tim ständig Schwindelanfälle hatte, wie er später zugibt, merkt keiner. Roadie Mücke leistet ganze Arbeit, indem er die Chinesen mächtig aufmischt und die Show erreicht ihren Höhepunkt als Sänger Tim „German Style“ ein Bier stürzt, um auf den letzten Song anzustimmen. Begeisterungsstürme – darauf stehen die Chinesen.

Als wir denken, „jetzt ist’s geschafft“, gehts nochmal richtig ab. Clubbesitzer „69“ (auf der linken Hand eine 6, auf der rechten eine 9 tätowiert), lädt uns zu einer Gruppe Locals. Der Mann erinnert stark an „Mr. Chao“ aus dem Film Hangover: „I booked these Motherfuckers, because I love their shit. We met 3 years ago in Beijing and are friends ever since.“

In der Gruppe von „69“ feiert ein 8-jähriger Geburtstag und gibt uns was von seiner Torte ab. Dann haut sein Vater mongolische Lieder raus und eine Frau namens „Unna“ zeigt wilde Dancemoves.

Um drei im Hotel ist noch nicht Schluss. Als wir in die Lobby treten, schrecken überall Chinesen in Uniform aus dem Schlaf – ist schließlich rund um die Uhr besetzt, der Laden. Im Innenhof treffen wir dann auf drei Tee trinkende Männer, die auch schon bei „69“s Afterparty dabei waren. Wir können zwar nicht mit ihnen reden, setzen uns aber trotzdem dazu. Und dann gehts los: nach und nach bringen die Typen, Trockenfleisch, Trockenfisch, ein Hähnchen und anderes nicht identifizierbares Zeug. Zum Schluss noch Dosenbier von – Achtung: Köstritzer, Bitburger und Feldschlösschen. Als dann google-Translate auf dem Handy des einen Recken anzeigt „I like u little guy“, entscheidet Michi, dass wir gehen sollten. Vielleicht ein Missverständnis, vielleicht auch nicht. Vieles läuft anders in China, da fällt es schwer zu differenzieren.

4 Uhr- Licht aus.

Ende September geht das Abenteuer los! Mit der „harten“ (zumindes optisch und akkustisch) Rockband THE IGNITION gehts auf eine wilde Tour quer durch China. Am Ende soll daraus eine Tourdoku werden, zwischen endlosen Meilen auf der Schiene, Hotelzimmern und Konzertbühnen. Riesige Städte, von denen kaum ein Europäer je gehört hat, in denen „Langnasen“ immer noch auffallen wie bunte Hunde im Streichelzoo. Die ein oder andere interkulturelle Begegnung dürfte die Mundwinkel anheben.

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DIE CHINAROCKER – Hobbyband aus Ahlen tourt durchs Reich der Mitte

Daheim in Deutschland spielt THE IGNITION Konzerte in Clubs und auf Stadtfesten vor kleinem Publikum. Die vier Hartrocker aus dem Ahlener Ortsteil Tönnishäuschen (300 Einwohner) stecken viel Herzblut in ihre Musik, schreiben eigene Texte und bringen CDs raus. Zum Überleben reicht die Musik allerdings nicht, sie bleibt ein arbeitsreiches Hobby. Aber einmal im Jahr darf THE IGNITION zumindest träumen, vom großen Rockstar-Leben, denn für zwei Wochen geht’s auf Chinatour. Vor fünf Jahren lud ein deutsch-chinesischer Freund sie zum ersten Mal nach China ein und seitdem lässt das riesige Land die Band nicht mehr los. Hier spielen sie auf Festivals vor 20.000 ekstatischen Chinesen, in vollgepackten Nachtclubs und Konzerthallen. 9 Stationen mit Bandequipment quer durchs Land in 10 Tagen und das alles per Zug.